Land der Dichter und Denker

Ein verhooligantes Land brennender Flüchtlingsheime könne kein Land der Dichter und Denker mehr sein. Habe ich gehört und gelesen. Dann nochmal woanders gelesen und wieder gehört.
Aber warum denn nicht? Passt doch ideal. Denn was das Denken angeht – das war schon immer Definitionssache. Und wer zum Teufel hat je behauptet, man könne Dichtern trauen?
So ein Dichter darf zweibeinige Tische preisen, silberne Einhörner reiten, eine Reise ans Ende des Regenbogens buchen – tatsächlich wird sowas von ihm erwartet, Jobbeschreibung quasi.
Findest du das etwa vertrauenswürdig? Und je gefeierter, umso suspekter reimt so einer in den Tag hinein.
Nimm den Schiller, und gleich seinen Top-Hit: die Freuden-Ode, du weißt schon, das Götterfunken-Ding. Dann besuch mal den „Stammtisch gegen die Gefährdung des Pichelsteinertopfes durch die Waisen aus dem Morgenland“ und schau mal, ob die sich freuen können. Die können. Und wie die sich freuen, die freuen sich dieser Tage sogar wie verrückt. Nach der Schiller-Ode müsste dieser feuertrunkenen Freude nun die Sache mit „deine Zauber binden wieder“ und „alle Menschen werden Brüder“ wie nichts auf dem Fuß folgen, so automatisch wie das „Lü-gen-pres-se“-Brüllen des gemeinen Pegida-Anhängers als Reaktion auf … naja, auf so ziemlich alles eben.
Aber mit der Verbrüderung ist es trotz der Freude, samt sanftem Flügelweilen am Stammtisch Essig – Branntweinessig, versteht sich, dein schmuddeliges Balsamico-Gelumps kann gleich wieder dahin zurück, wo es hergekommen ist.
War ja auch nicht anders zu erwarten, weil: der Schiller hat halt nur ein paar Trochäen jongliert und sich hinterher über die allgemeine Ehrfurcht vor dem Oden-Ding beömmelt.
Und da steht er beileibe nicht allein: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, auch ein Riesenschlager, diesmal vom Hesse. Auf diesen Zauber kannst du dich so sicher verlassen, wie auf eine freie A2 an einem Freitagnachmittag oder wie Griechenland auf bessere Tage. Dazu fällt mir gleich meine Einschulung ein: kaum das erste mal auf dem Schulhof, waren da auch schon die Viertklässler, die Herrscher über Gedeih und Verderb. Und offenbar war gerade Verderb-Saison, frage nicht; du hast lecker Kakao im Plastikbecher mit? Nun, es gibt Verstecke, die etwas taugen und solche, die sind zu nichts zu gebrauchen – bitte um die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Oder um die Kraft, zwei Unterrichtsstunden mit klebrigen Haaren, feuchtem Nacken und einem dich umwabernden, stetig saurer werdenden Milchmischgetränksmüffel auszuhalten.
Meine erste Freundin: auch so ein Anfangszauber. War gleichzeitig Freundin eines anderen, hatte aber irgendwie vergessen, mir das zu sagen – das hat ihr Kerl dann recht entschieden übernommen.
Dem unter dem elterlichen Radar eingeschmuggelten ersten Rotwein konnten nur ein paar Dutzend Esslöffel Zucker zu leidlicher Genießbarkeit verhelfen. Der erste Hamburger – Mumie mit einer Scheibe Gurkenzombie und Wiedergängersalatblatt. Das erste Mal „Nazareth“ live in der Niedersachsenhalle – einmal die Komplettdesillusion mit Volumen und Festiger bitte.
Und dann das erste gut bezahlte Engagement als Jungmucker in einer Band: aufspielen in einem Nudistencamp der Freikörperkultur irgendwo im dunklen Tann. Der „Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten?“ Haste gedacht, Hesse. Der finstere Charme eines Dorfs zwischen Cloppenburg und Vechta herrschte da, nur bedauerlicherweise ohne die gnädig ein Minimum an Ästhetik bietenden Textilien, die in jener Region aus gutem Grund Standard sind.
Der erste Parisbesuch – die dreckigere Version der stinknormalen, selbstüberschätzenden Unhöflichkeit. Anfangszauber „der uns beschützt und der uns hilft zu leben“ am Arsch, Hesse.
Nein, Dichtern ist nicht zu trauen.
Und dann erst die Denker.
Haben wir zuhauf hier, auch wenn sie nicht mehr aussehen, wie bei Rodin.
Eher wie du und ich. Etwa 57 Prozent der Erwachsenen lassen derzeit bis zu 12mal täglich verlauten: „Ich sage Ihnen jetzt mal, was ich denke“. Gefolgt von einer Erklärung, warum Andere anders sind, das völlig in Ordnung sei, sofern dieses Anderssein sich woanders abspiele und dieses Woanders möglichst weit weg von einem gefährdeten Pichelsteinertopf oder sonst einem wiederentdeckten bedrohten heimischen Kulturgut liege.
Pures Denkerland hier.
Und natürlich ist so ein „Ich sage Ihnen jetzt mal, was ich denke“ nicht als Einladung zu einem Diskurs misszuverstehen. Ein echter Hierzulande-Denker neuen Typs will seinen Standpunkt klar machen. Nunja, eigentlich nicht den seinen. Vielmehr DEN Standpunkt, den richtigen. Und das ist nicht der der Lü-gen-pres-se, auch wenn die mehr als nur einen vertritt.
Aber das wird ja wohl noch erlaubt sein.
Schließlich darf man doch wohl denken, was man will, wir sind ja nicht in Dingsbumstan.
Sondern im Land der Dichter und Denker.
Selbstverständlich.

Andreas Bürgel