Der Ire
You ain’t nothing but a hounddog

Es ist lange her, dass ich zuletzt Morgennebel über den Feldern aufsteigen sehen habe.
Ist ja auch – bei allem Reiz, der diesem Dunst von Dichterseelen gemeinhin zugeschrieben wird – kein Ereignis, dem ich freiwillig beiwohnen würde.
Dieser Zeitpunkt ist für gewöhnlich einem stummen Dialog mit meinem Kopfkissen gewidmet, der allerdings heute wegen eines weiteren Interessenten an jenem Kissen ausfallen musste.
Wir haben seit gestern Abend einen neuen Mitbewohner, musst du wissen. Willie heißt der. Eigentlich William. Kommt frisch aus Irland.
Du weißt natürlich, was man über Iren sagt. Vor allem, dass sie sich erst dann Iren nennen dürfen, wenn sie nach einem Spatenhieb auf den Kopf unverdrossen wieder
aufgestanden sind und so ihren Dickschädel unter Beweis gestellt haben. Nun, Willie muss diesen Test mal vollumfänglich, sowieso, genau, klaro und volle Kanne bestanden haben. Wie sonst ist zu erklären, dass er mitten in der Nacht lautstark die Bücher eines Regals umsortieren muss – vorzugsweise aus dem Regal auf die Erde – nur weil die Flann O’Brien-Bände zu weit hinten stehen.
Wie sonst ist zu erklären, dass er geräuschvoll in schwarzer Nacht das Geschirr des Vortages in der Spüle auf Essensreste inspiziert – nur weil er seine Frühstückszeit für gekommen hält.
Und wie sonst ist es zu erklären, dass er im Morgengrauen meint, dass es sich mit meinem Kopfkissen eben besser schlafen lässt, als mit seinem.
Ein wenig ungehobelt der Kerl? Kann man sagen.
Aber du musst wissen, dass Willie sein bisheriges Leben vorzugsweise auf der Rennbahn und in seinem Schlafkabuff verbracht hat. Da kommt man eben nicht
viel rum. Pfeift auf Konventionen. Und wird halt etwas eigen.
Aber auch erfinderisch. Wenn du zum Beispiel glaubst, du hast alle Verwendungsmöglichkeiten von Schuhen, Papierkörben, Stühlen, Tassen, Telefonen oder Zeitungen in Betracht gezogen, solltest du dich mal mit Willie unterhalten.
Der kennt immer noch ein paar mehr. Wohl weil er recht unbefangen an die Dinge herangeht. Nur nicht an die Existenz des Fernsehers.
TV macht ihn total skeptisch. Was bestimmt aber an Bischof Mixa gelegen hat, der da gerade seine Gewaltlosigkeit gegenüber Kindern unter Verwendung der geheiligten Technik des Abwatschens darstellen ließ. Diese Art Dialektik würde
nicht nur einen Iren – gleich welcher Konfession – verwirren.
Wie den Fernseher – oder den telegenen Bischof – scheint Willie auch die Einrichtung von Treppen nicht unvoreingenommen zu beurteilen.
Für ihn als den bodenständigen Iren sind sie – freundlich gesagt – unnötig. Warum denn Ebenen über Ebenen türmen; je näher man der Mutter Erde ist,
umso besser.
Also werden Treppen schlichtweg einfach erstmal boykottiert.Die Meeresspiegelhöhe reicht einem aufrechten Gemüt nunmal. Das grüne und weite Land, da geht einfach nichts drüber.
Stundenlang kann Willie regungslos am Rand eines weiten Feldes stehen und seinen Blick zenmeistermäßig in der Weite ruhen lassen. Versuch ihn dann mal zu einem Standortwechsel zu überreden.
Warum denn in die Gegend schleichen, die Ferne liegt doch so nah.
Und wenn Willie mal nicht will, dann will er eben mal nicht.
Treppensteigen.
In Häuser gehen.
Aus Häusern gehen.
Mit seinem eigenen Menü vorlieb nehmen.
Einer freundlichen Diskussion gegenüber ist er allerdings immer aufgeschlossen. Menschen guten Willens kommt er durchaus entgegen – und das obwohl er weiß, dass im Grunde eigentlich nur er so ganz wirklich und tatsächlich recht haben kann. Iren sind auch großherzig.
Obwohl die Rennbahn praktisch sein Zuhause war, ist Willie eigentlich kein Spieler. Schlägt man ihm ein Spielchen vor, ist er bestenfalls leidlich interessiert.
Spannender ist da allemal die Weite des niedersächsischen Flachlandes.
Und die zu jeder Tageszeit.
Und so kommt es auch, dass ich Willie an seinem ersten Morgen bei uns in die aufsteigenden Nebelschwaden begleite. Die er mit konzentriertem Kennerblick betrachtet. Vor allem jene, die weit im Horizont wabern.
Und je länger ich hier mit ihm stehe, um so besser verstehe ich das.
Und fange an, darüber nachzudenken, ob die verschwenderische Installation von Treppen heute tatsächlich noch zeitgemäß ist und die Fernsehbischöfe nicht
selbst mal abgewatscht gehören. Und das nachhaltig.
Vielleicht steckt ja mehr Ire in mir, als ich dachte …

Andreas Bürgel
2010

Willie 2010