Illu AB Pietrek

Wir sollten Vorurteile respektieren. Die schützen.
Zum Beispiel vor der Erwartung, in der Imbissbude ein gelungenes Soufflé zu ergattern oder das Konzert der Blockflötengruppe St. Ambertius ohne unbeherrschbares Muskelzucken zu verlassen – so bleibt das Frustrationstoleranz-Konto unangetastet.
Andererseits geht uns durch die Vorurteilerei einiges durch die Lappen. Der Verlust der mentalen Schwerkraft durch einen Ballettabend vielleicht – oder durch einen Rosé.

 

Erlebnispädagogik

«… oder ein Banjo – da würde keiner behaupten, das Ding wäre ’ne Gitarre. Ich meine, so lange sich das Teil in seinem Koffer duckt und hinter der Wand aus Filzpolsterung verkriecht, ausbruchgesichert durch solide Schnappverschlüsse, könnte ein Premiumdepp noch auf die Idee kommen, dass sich da ’ne Gitarre verbirgt. Aber spätestens wenn das Ding an die Luft und irgendjemand an die Saiten kommt ist Schluss mit lustig, hat sich dann was mit Gitarre, da hilft nur Flucht.»
«Plüsch», sage ich, und Erwins Gesicht tanzt ein Fragezeichen. «Oder Samt. So ein Banjokoffer wird nicht befilzt.»
«Plüsch, Filz – das interessiert wie Soleier bei einem Hummerlunch. Wie bekannt, sind Witze Spitzenindikatoren für Wahrheit, und ein Klassiker ist doch wohl der, bei dem Petrus dem Rechtschaffenen, der es auf die andere Seite geschafft hat, ein ‹Willkommen im Himmel, hier deine Gitarre› entgegenflötet, während etliche Etagen tiefer der Hörnertyp den Sündennotoriker mit ‹Moinsen in der Hölle, greif dir dein Banjo› in Empfang nimmt.»
«Der Witz geht mit Harfe und Akkordeon», unterbreche ich.
«Bah! Der Punkt ist, …»
«Der Punkt ist, dass ein Banjo gar keine Gitarre sein will, sondern eben ein Banjo. Und was zum Henker hat das alles mit Rosés zu tun?»
«Beides Abfallprodukte, Mann. Wie Ratatouille oder Boygroups. Gewollt wie ein Eigentor, ambitioniert wie eine Fensterfliege. Aber mit unbändigem Überlebenswillen. Es hat sich auch keiner hingesetzt und gesagt, au ja, ich mache mal Molke; Käse wollte man machen – die Molke war Ausschuss. Mit Selbsterhaltungstrieb. Wie die Rosés. Flüssigkeit, lediglich zum Wohle der Rotweinkonzentration aus dem Gärtank gelassen.»
Die größte Verwundbarkeit ist die Unwissenheit und homo homini lupus – der Erwin ist des Erwin Feind; aber da hilft Erlebnispädagogik! Also lege ich den Banjohelden Bela Fleck mit seinen Flecktones ins CD-Fach, drehe die Anlage auf und öffne fix drei Rosés.
Erwin zieht einen heran. «Rkatsiteli?»
«Übersetzt: Roter Spross», pädagogisiere ich los. «Ist aber eine alte weiße Rebsorte. Aus Georgien. Bekommt nach einem Monat Maischestand ordentlich Farbe und ein Rosé-Etikett.»
«Fake-Rosé», protestiert Erwin, probiert aber trotzdem. «Ui, der motzt auf. Ein Rumpelstil, ohne chen – Verniedlichung untersagt.»
Womit er nicht unrecht hat. Der Pheasant’s Tears Rkatsiteli Rosé 2015 aus dem Qvevri macht mit Himbeere, Feige, Sauerkirsche, gequetschter Pflaume, Rharbarber und Wermut im Marschgepäck Front gegen deine innere Sicherheit. Die saftigen Früchte stecken in Kampfanzügen aus Tannin, meinen es ernst mit dem Rosé-Spass.
Ungefiltert trüb läuft Jörn Goziewskis Pinot Rosé Arancia 2013 aus der zweiten Flasche.
«Pinot-Nase», registriert Erwin. «Mit dabei: Pomeranze, Kirsche, Liebstöckel, Quitte, Brioche. Eine echte Rosé-Emanze!»
Was respektvoll klingt.
Wie es sich gegenüber einem Wein gehört, der naturnah über rund zweieinhalb Jahre im drittbelegten Barrique zu energischem Selbstvertrauen gelangt ist. Und siehst du: mit Erlebnispädagogik erreichst du selbst Vernagelte.
Der dritte Rosé steht zart, klar und reflektierend im Glas.13er L’Horizon, langsam gepresst. Granatapfel, Taubnessel, Mandarinchen, Schalenschnips-Organgenmarmelade, Walderdbeere, Kumquats, Nashi, Holzahnung trotz sechster Belegung des Halbstücks. Durchgängig fein.
«Der kann mit Schuhgröße 45 auf einem Luftzug spazieren ohne zu stolpern», begeistert sich Erwin, und ich sehe zurückgelehnt zu, wie alle seine Vorurteile vernichtend geschlagen aus dem Raum wanken. «Aber Nachbar», dringt es zu mir durch – kühl, garstig, «wenn nicht gleich jemand diesem Bela Fleck das Banjo abfackelt, tick ich aus. Leg mal pronto einen Gitarrero auf: Metheny, Ry Cooder, Di Meola. Ist echt zu deiner eigenen Sicherheit.»
Okay. Vielleicht nicht alle Vorurteile. Und manche sollten wir sowieso respektieren.
Wie gesagt: aus Selbstschutz.

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, März 2017.
Illustration: Johanna Pietrek