Illu AB Pietrek

Wehe, wenn Weinlinge über ihr Bezugsgetränk sprechen. Schon ihr Rivaner-Geplänkel oder Gamay-Smalltalk führt in ungewappneter Runde leicht zu entgleisenden Mienen und nervösem Getuschel. Thematisieren sie zudem Favoritenflaschen, reden sie sich stets geradewegs in die Isolation – denn wer kann schon die Zeichen der Umwelt deuten, wenn es um den Gral geht. Zumal eh gilt, dass der Splitter im Auge der Anderen gigantisch, der Balken im eigenen aber stets überschaubar ist.

 

Seltsam

»Du Napfömmel.» Erwin boxt die Armlehne des Schreibtischstuhls.
Meines Schreibtischstuhls.
Arretierbare Wippmechanik, Lendenwirbelunterstützung. Per Gasdruckfeder stufenlos höhenverstellbar – da musst du eben wissen, an welchen Hebeln du ungestraft rumfummeln kannst, und welche dir eine höllische Spontantalfahrt bescheren.
«Du strunzblödes Molestiermöbel.» Grimmig stemmt sich Erwin wieder auf Augenhöhe.
Ich habe es nie ausreichend verstanden, aber Erwin hält strikt daran fest: er kommuniziert mit dem Nonkommunikativen. Mit unserem ungeölt quietschenden Hoftor, beispielsweise («Ganz toll, sing mir ruhig was vor, Florence Foster Jenkins»), mit Ampeln («Grüüün! Werd grün, du talentfreier Serienheld») und bevorzugt mit seinem musealen R5 («Na super. Haste den Tank wieder mal ausgesoffen, du Schrumpfschlumpf»).
Erwin, der Gebrauchsgutflüsterer. Türstürze, Computer, Dosenöffner – für alles hat er ein paar Worte übrig.
Erst habe ich gedacht: irgendein verdrehter Franziskus-Nachfolge-Komplex; Der Mann aus Assisi redete mit Vögeln und Wölfen, mein Nachbar halt mehr mit Türen oder Ampeln. Aber mittlerweile glaube ich, Erwin kennt den Franziskus gar nicht; für ihn steht vermutlich nur die traditionelle Auffassung einer nicht vorhandenen Kommunikationskompetenz der Dinge auf dem Prüfstein. Was ihn ins soziale Abseits katapultieren wird. Randständig. Marginalisiert.
Mann, wenn er sich doch mal selbst zuhören würde. Sprache ist ja so ein gemeiner Verräter, Spiegel deiner inneren Verfassung – da musst du jetzt gar nicht weise »Wittgenstein« murmeln und in dich hinein nicken, das ist gestandenes Sesamstraßen-Wissen. Nur am Erwin scheint’s vorbeigegangen zu sein. Während ich die durch seine unkoordinierte Gasdruckfahrt verursachte Rotweinlache vom Tisch wische, warne ich von Kumpel zu Kumpel: »Du bist seltsam.«
Was ihn lächelnd einen Schluck aus dem Weinglas nehmen lässt.
»Vor zwölf Stunden habe ich den Burschen aus dem Bettchen geholt und von seinem Schlafmützchen befreit, damit er obenrum ein wenig Luft bekommt«, ich deute auf den 12er »Erse« Etna Rosso der Tenuta di Fessina.
Erwins linke Braue wandert über die Normkurve nach oben als er mich anschaut. Kopfschüttelnd schickt er zwei Schlucke balancierten, hochpräsenten Stoff auf die Reise. »Waldbeeren, dunkle Steinfrucht, Veilchentouch«, resümiert er. Ich interveniere: »Das ist ein echter vinorossanischer Diplomat. Kein seichter Charakter. Ambitioniert. Schwer durchschaubar. Ein Pokerspieler mit ’nem Quantum Hinterhand-Überraschungen, ein auf parapsychologische Fälle spezialisierter Anwalt. Oder …«
»Parapsychologische Fälle …« Erwin grinst schräg, kratzt heftig seinen Scheitel und lässt seine Brauen Klimmzüge üben.
»Fakt ist«, erläutere ich, »der könnte alles – gewandt, kompetent und triftig wie der ist!«
»Triftig«, echot es, und Erwins Lider plinkern den turnenden Brauen hektisch Luft zu.
Ich lasse derweil den 08er »Superistrian« von Roxanich frei.
»Kommt ein wenig aus der Natur-Ecke, oder?«, spekuliert Erwin nach einer Weile des Abcheckens.
Ich klopfe bewegt gegen mein Glas: »Wir dürfen Zeugen sein, wie ein Genius sein dramatisches Werk vorträgt. Genau, wie Goethe sagt: ›Am Ende soll die Empfindung, in der Mitte die Vernunft, am Anfang der Verstand vorwalten und alles gleichmäßig durch eine lebhaft-klare Einbildungskraft vorgetragen werden‹.«
Nun klopft Erwin gegen sein Glas: »Goethe inside.«
Was absolut zutreffend ist und somit in keinster Weise seinen albernen Lachanfall erklärt.
Offenbar Zeit, meine Schätzchen zu sichern. «Ihr habt das gut gemacht», spreche ich die beiden an, streichele anerkennend über ihre Schultern. »Hier sind eure Korkhütchen, ruht euch schön aus.«
»Aber klar: ich bin seltsam«, kichert Erwin, den Blick gesenkt.
Der Erwin. Braucht wirklich Hilfe.
Jetzt redet der arme Kerl schon mit dem Tisch.

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, Juli/August 2016.
Illustration: Johanna Pietrek