Auf dem Schirm
App mit Tücken

„Er hat uns auf dem Schirm“, jodelte ich, „vor uns müsste bald eine Linksbiegung …“. Doch da musste ich mich recht plötzlich aufs Nichtlanghinschlagen konzentrieren. Baumwurzel. Es schaut halt keiner mehr nach dem Rechten, im Wald. Ich blickte auf. Nichts.
Na gut, nichts außer massenhaft Grün. Bäume – benadelt, beblättert -, Farne, Sträucher. Aber keine Ehefrau. Dafür, deutlich erkennbar, nur ein paar Meter vor mir: ein Linksknick des Weges. Hinter dem meine Frau bereits außer Sicht war.
Ich stapfte los, holte sie ein. „Da, schau mal: er weiß, wo wir dran sind!“ Mit einem Grinsen, das den meisten Leuten einen mehrtägigen Gesichtsmuskelkater eingebracht hätte, streckt ich ihr meine Hand entgegen. Und erntete einen Blick, der sonst denen vorbehalten ist, die sich über Post freuen, in denen ihnen ein Megapreis in irgend einem Gewinnspiel mitgeteilt wird, das sie bis dato noch gar nicht kannten oder jenen, die den Geschäftsführer des Supermarktes kommen lassen, um den zu fragen, ob dieses Klopapier auch wirklich so sicher ist, wie auf der Packung angegeben.
„Da weiß ER offenbar mehr als du“, war die Antwort, nachdem sie die Outdoor-Navi-App mit der totalen Peilung natürlich keines Blickes gewürdigt hatte. Aber weißt du, auf so etwas war ich vorbereitet. Das geht so, seit dem ich mir dieses 1a Smartphone zugelegt habe: GPS, Bluetooth, Highspeed-Datenverbindung, WLAN. Und Apps. Jede Menge Apps, klar das Beste an der Sache. Keine Ahnung, wie ich vorher ohne Apps, du weißt. War ja wie Alice Schwarzer ohne BILD, Faust ohne Mephisto oder die 60er ohne Oswald Kolle. Gut, vor so drei Wochen musste ich ein bissele einstecken: ein Spaziergang durch die Feldmark, in T-Shirt und Sommerjacket. Die App hatte einwandfrei gutes Wetter auf dem Schirm. Ob ich denn nicht die Wolken, hatte meine Frau mich Lehrer-Lämpel-gleich hinterher gefragt, Nimbostratus, Niederschlagsboten und alles. Die grafisch makellos dokumentierte 20% Regenwahrscheinlichkeit auf der App war da klar angreifbar, so als Argument. Dafür kann ich mit einer App die Parkgebühr für mein Auto zahlen und brauche keine Parkscheine mehr. Auch keinen Arzt, du, ich habe jetzt eine Diagnose-App. Hat mir sogar eine Sprechstundenhilfe empfohlen. Weil ich doch eigentlich zum Kardiologen sollte. Den ich auch anrief – und dabei gleich mit dem vollcomputerisierten Telefondienst verbunden wurde: „Wählen Sie die ‚1‘ für Privatpatienten, die ‚2‘, wenn Sie Patient mit Zusatzversicherungen sind oder die ‚3‘ für Kassenpatienten. Danke, die ‚3‘. Kassenpatient. Nennen Sie Ihre Beschwerden nach dem Signal, Sie erhalten innerhalb von 12 Wochen einen Rückruf mit der fachärztlichen Diagnose.“
Ja, da geht das mit der App doch viel schneller. Und die Krankenkasse findet die auch gut. Sozialverträglicher, belastet die Gemeinschaft nicht und alles.
Und dann: hast du mal ein Gespräch versucht, ohne Wikipedia-App in Reichweite? Du bist der absolute Kommunikationskrüppel, vor allem, wenn alle anderen ständig auf ihrem Smartie herumtippen.
Und, du: ich habe mir auch eine Wein-App gegönnt. Großartig, kannst du glauben: Du weißt gerade nicht, was du von einer bestimmten Buddel halten sollst? Einfach Etikett fotografieren, die App sucht die Datenbank ab und klärt dich auf. Und die hat nicht irgendwer gemacht, diese Datenbank; sogar die Weingroßhändler haben daran mitgearbeitet, ja glaubst du!
Welcher Wein zur Kohlroulade? Die App reagiert mit direkter Verbindung zur Bezugsquelle. Das ist praktisch gedacht. Dein Kumpel schiebt dir ein Glas Ehrenfelser zu, will deinen Kommentar? Früher wärst du zu diesem bemühten Gesichtsausdruck verdammt gewesen, wie ihn die Ferres immer beim Versuch einer ihrer Rollen zu geben hat, weil du natürlich so eine ausgefuchste Rebsorte vorher nicht eingepaukt hast. Heute aber souverän: „Apfel, Pfirsich, Aprikose, Grapefruit“ – ist ja nur ein kleiner Spicker auf die App.
Gerade vergessen, was die richtige Vokabel zum Arneis war? Zackweg die Rettung: „Mandel“ muss es heißen. Da kann es doch echt nur meine Frau wundern, dass ich mein Smartphone purpurledern mit Samtinnenbezug umverpackt habe. Orakelstätten kommt so ein Outfit nun mal zu.
Aber jetzt pass auf, ich erzähl es nicht gerne. Gestern der tiefe Fall. Das Orakel mit Schwung in die Säkularisation: Am Abend lief ein Frühburgunder munter ins Glas. Delphi, wie ich mein Smartphone da noch nannte, lag bereit auf meinem Schoß. „Brombeere, Waldbeere, Himbeere, schwarze Johannisbeere, Kirsche, Rauch“ leuchtete auf dem Display, ich war also derart bereit, dass ich meinen Kommentar beinahe rausposaunt hätte, bevor ich den ersten Schluck vom Frühen genommen hatte.
Das also noch schnell nachgeholt und… Delphi war ein Totalreinfall, ein Loser, ein Desaster. Das Ding hier war mitnichten mit Brombeerewaldbeerehimbeerekirscherauch abgemacht. Ich versuchte es ja, aber es tönte hohl wie ein Hirtenbrief zur Bundestagswahl. Hier blitzten klare Struktur ohne spröde Kanten auf. Hier war es, als würde eine präzise Sprache mit vielen Vokabeln gepflegt. Zeigten sich detaillierte, multiple filigrane Texturen, alles andere als fragil. Brückentaugliche Spannungsbögen, gänzlich unversponnen. Noch war alles wohl straff, aber nicht überspannt. Mit einer Perspektive wie an einem klaren Sonnentag. Und endlich hatte ich gleich mit verstanden, was mir die Mathelehrer vor 35 Jahren klarmachen wollten: das Ding mit den geraden Linien, die sich in der Unendlichkeit kreuzen …
Fürst. Frühburgunder Centgrafenberg „R“. So etwas hatte Delphi nicht auf dem Schirm. Keine Peilung.
Aber er kann einparken, sagte ich mir trotzig.
Und Wegbiegungen kann er auch.

Andreas Bürgel
veröffentlicht Nov. 2011 bei EnoWorldWine.com
und Febr. 2012 bei Winetimes.com