Proust reloaded

Ich schließe die Augen, ziehe den Duft in die Nase.
Stoff für den Hippocampus, diesen hyperaktiven Untermieter im Temporallappen des Hirns.
Der feuert bereits die angesaugten Düfte von Hölzern, Vergorenem, Floralem, Würzigem in das limbische System; macht eine Blitzkollekte, in der er mit den Gerüchen einstmals Erinnertes, Gefühltes, Erlebtes einsammelt, Flashbacks zu Bausteinen eines Erinnerungsdom verdichtet. Kompetenz wohnt darin, meldet mein Hirn, und Kultur. Es signalisiert, dass ich es in diesem mir bislang unbekannten Weinladen auf sicheren Boden geschafft habe, in ein Konsulat des Wahren und Schönen.
Ja, so läuft das, sagt dir auch jeder x-beliebige Gehirnforscher.
Diese Forscher haben Leute vor Jahren schon in Kabuffs gesteckt, Waldmeisterduft reingepustet und sich dann einen Reim darauf gemacht, warum die Probanden plötzlich Rotkäppchen aufsagen konnten und sich pudelbemützt und 35 Jahre jünger im dunklen Tann stehen wähnten. Die haben dann rausgefunden: das Gehirn verknüpft die in seiner Rinde repräsentierten Geschmacks- und Geruchseindrücke, assoziiert wie wahnsinnig: Geruch ins Hirn, Erinnerungsfilm retour. Und umgekehrt. Brägenfilmfestspiele mit langem roten Teppich, frage nicht.
Das Drehbuch ist freilich bei jedem anders.
Schnupperst du an einer Tasse Kakao, stehst du Glückspilz vielleicht holzbeschuht im Windmühlengarten, ich hingegen befinde mich sofort rotzheulend an einem Tisch mit sadistischen Nonnen, die mir nach einer Madeloperation  in einem katholischen Kinderkrankenhaus Urschleim reinwürgen, den sie „Schokoladensuppe“ nennen. Aber hier und jetzt sagt mein Hirn: du bist in guten Händen.
Also öffne ich die Augen und werde von einem nicht mehr jungen Mann mit blauer Schürze begrüßt.
Ich bedeute ihm, dass ich mich umschauen werde und bekomme ein „Die Rotweine sind alle toll; die Weißen, ich mag irgendwie keine Weißen, müssen aber wohl sein“ auf den Weg. Was so klingt, als höre jemand bei Sam-&-Dave-Nummern einzig Sam Moore zu, gehe bei Laurel-&-Hardy-Filmen während Stans Szenen Bier holen, oder fände, beim Tennis würde eh ein Spieler zu viel auf dem Platz stehen.
Weil mir gerade einfällt, dass mich Tennis interessiert wie die Ex-Ex von Prinz Harry, reißt der Gedankenfaden.
Ich ziehe eine Flasche aus dem Regal. „Alles eigene Direktimporte“, ruft der Ladenmann. Der Fabelhaft Reserva in meiner Hand gibt darauf ein „pah“ von sich und die Torres-Sammlung neben ihm hüstelt verschämt.
Ein Kunde, höre ich, möchte einen Ripasso. „Nicht am Laden“, man führe aber italienischen Magenbitter, „extralecker“. Was dem Kunden offensichtlich die gleiche Frage aufwirft, wie abends zuvor der Godard-Film: das war ein Witz eben, richtig? Oder doch nicht? Das war …?
Ein Neustart: Valpolicella, mit zweiter Gärung auf Amaronetrester. „Zweite Gärung – ein Sekt“, freut sich der Verkäufer. „Na, da werden wir doch was Passendes finden, wäre ja gelacht.“ Doch das scheint dem Kunden eh vergangen zu sein, denn er steuert den Ausgang an. „Weiß auch nicht, was er will“, raunzt der Ladenmann hinterher.
Während ich meinen Rundgang fortsetze, dringt die hiesige Spielart von Kundenberatung durch die Regale.
Da werden Weinhygienesorgen genommen, indem man auf EU-Standards und die Selbstverständlichkeit einer Traubenwaschung nach der Ernte unter fließendem Wasser verweist („sonst käme ja Werweißwas in den Wein, denken sie nur an die Vögel“).
Da gibt’s den Insidertrick gegen korkige Weine: „einfach durch ein Teesieb gießen, da kommen keine Krümel durch“.
Und den unverzichtbaren Rat, man möge auch mal nach dem Etikett auswählen, schließlich sei es das Gesicht des Weines und man säße der Flasche ja eine ganze Zeitlang gegenüber.
„Das hier ist ein Witz, oder? Das muss doch ein …“, rumort der Godard-Effekt nun in meinem Schädel. Und mein Hippocampus fühlt sich 1a olfaktorisch reingelegt, denn auch der hat inzwischen mitgekriegt, dass hier in etwa so viel Kompetenz am Start ist, wie in einem Restaurant, dessen Karte Lamm aus heimischer Jagd anpreist. „Duftmissbrauch“, zischt Hippo endgenervt, „Vorspiegelung falscher Geruchstatsachen“. Und einen angepisster Hippo – den hältst du im Kopf nicht aus. Da musst du gegensteuern.
Also ziehe ich zuhause drei Flaschen aus dem frisch eingetroffenen Paket von Enderle & Moll und gebe etwas vom frischen Müller aus 2014 ins Glas und HC etwas zu tun.
Ein, zwei Nasen vom Müller bringen ihn wieder in die Spur:
England mit den Kumpels, funkt er; eine wilde Wiese, irgendwas mit weißen Blüten drin – Blumennamen, wer merkt sie sich. Apfelbäume über uns, neben uns eine Gallonenflasche Cider vom nahegelegenen Hof. Burger von einem Straßengrill, der am nächsten Tag von der Gesundheitsbehörde geschlossen werden sollte. Das Cassettenband im Auto rollt von Paice-Ashton-Lords I’m gonna stop drinking zu Zappas Honey, don’t you want a man like me? Das Leben: kein Witz, aber ein Spaß – nie etwas anderes gewesen.
Ich nicke grinsend, danke Hippo für dieser Zeitreise, und seine Laune bessert sich zusehends.
Der 2014er Müller-Thurgau, der mal als unplugged bekannt war, gibt HC Stoff für eine 8mm-s/w-Retrospektve:
Ausgang der 60er. Die Gartenlaube meines Großvaters. Davor: jede Menge Gelbobstbäume. An der Seite: Quitten. Irgendwo Walnuss-Sträucher mit noch grünen Früchten. In der Laube, unter den Dielen: Platz für Opas Lageräpfel. Und für die Sorte Heftchen, die man nicht auf dem Tisch liegen lässt, wenn über diesem die schwarze Madonna von Tschenstochau hängt – Rotwerdgefahr.
Kinder sind investigativ.
Und Hippo ist absolut in seinem Element:
Der Müller-Muschelkalk 14 lässt ihn tief buddeln.
Ein Song kommt zu Tage: What‘s going on. Taste beim Festival auf der Isle of Wight 1970. Direkt, energisch. Ohne Rückendeckung, Ausflüchte oder Entschuldigungen. Die Gitarre bisweilen ein wenig verstimmt – na und, alles ist besser als schminkende Overdubs oder Postproduction-Ästhetik. Die Band: schutzlos sich selbst ausgeliefert. Kein Fingerzeig, sondern eine detailreiche Schatzkarte. Ins Ungewisse.
Ich bin begeistert, HC ist begeistert. So greife ich erneut zum Müller und spule die Brägenfilme zurück.
Und weil sich die Enderle & Molls und ich mittlerweile auch ganz direkt, ohne Vermittlung, ausgezeichnet verstehen, kann sich der Hippocampus ein wenig aufs Ohr legen.
Das hat er sich verdient.

Andreas Bürgel