Rohnatur

Wehmütig ziehe ich die letzte Flasche von Enderle&Moll auf.
Nicht immer leicht zu bekommen, oft nur begrenzt verfügbar. Gutes bleibt nicht lange im Verborgenen.
Ein Auxerrois ist es, mit der typischen Handschrift. In diesem Fall spielen Pomeranze, Quitte, Mirabelle und ein bissele Nuss mit; zumindest für mich.
Der Fernseher springt auf Knopfdruck an, eine Frau informiert über die Menschenunwürdigkeit von warmem Essen.
Widernatürlich, sagt sie.
Die einzig vertretbare Kost, bringt sie mir bei, ist die pflanzlich-rohe.
Den Beweis dafür hat sie anstandslos parat: das Feuer.
Die Hominiden nämlich sind erst seit dem Pleistozän mit dem Feuer warm geworden, erinnert sie, doch zu der Zeit war der Mensch bereits fertig ausjustiert, voll eingerichtet, kurz: er selbst.
Das ganze Grillen, Kochen, Backen, das nun begann, kann demnach nur als fortwährende Vergewaltigung der menschliche Natur begriffen werden, die auf sowas gar nicht eingestellt ist – einzig vegetabile Rohkost entspricht unserem Wesen, das dem Menschen Gemäße liegt in den Wurzeln, in der Vorzeit.
Die TV-Moderatorin ist reinweg begeistert von der Expertin. „To-tal-fas-zi-nie-rend“, juchzt sie.
Wobei ihr irgendwie entgeht, dass sie im Fernsehen ist, und somit – wenn die menschliche Wahrheit im Vorpleistozän liegt – die personifizierte Lüge lebt; es sei denn, die Gute geht davon aus, dass die Flimmerkiste bereits im Zancleum die Mastodonten bespaßte und deshalb mindestens so sehr zur Humannatur gehört, wie Gräserknabbern.
Moderatorin und Expertin nehmen jedenfalls das „Zurück zu den Wurzeln“ jetzt erst mal wörtlich, grabschen einen Möhrenstick aus dem vor ihnen drappierten Glas, tunken in Joghurt und mümmeln drauflos.
Was mich ins Brüten bringt. Denn diese Kulturmöhrchen strecken ja erst seit der Neuzeit ihr Grün aus der Erde, weit nach dem pleistozänischen Feuerwerk. Was dann wohl massive Zweifel an der Menschennaturkompatibilität dieser Wurzeln aufwirft.
Mental scheint es den beiden jedenfalls nicht aufzustoßen, auch ihre Gastroenterologie spielt mit, und die Möhren bleiben drin.
So herrscht Hochstimmung als die Expertin vermeldet, dass immer mehr Menschen sich ihrer Natur bewusst würden, ihre Ernährung radikal veränderten und als Botschaft für alle anderen dieses biologisch abbaubare T-Shirt mit dem niedlichen „Stengel-Bengel“-Druck trügen, das die Kamera jetzt zeigen werde – für 22 Euro unter der eingeblendeten Telefonnummer frei Haus beziehbar.
Ärgerlich schüttele ich den Kopf, schenke mir aus der Auxerrois-Flasche nach, deren Pegel inzwischen Sentimentalitätswert erlangt hat.
„Semmelbratze“ grummele ich in Richtung TV-Expertin, lege ein „Flachplimpe“ drauf.
Doch dann geht mir auf: mit jedem Vorpleistozän-Spezi mehr erhöht sich meine Chance, noch von diesem komplett neuzeitlich-unnatürlichen Enderle&Moll-Stoff nachbestellen zu können.
Unwillkürlich fährt meine Hand zum Telefon.
„Von diesen Wurzel-Burzel-Shirts“, sage ich der freundlichen Stimme, „ja also, da hätte ich gern drei Dutzend, bitte. Und jeweils als Geschenk verpackt. Denn klar, unbedingt: die gute Botschaft muss unter die Leute. Sehe ich exakt genauso.“

Andreas Bürgel