Gruppendynamik

Morgenstille.
Ein paar Bäume säumen den unasphaltierten Weg, Vögel arbeiten am Soundtrack. Perfekt – wie Clos des Boutes‘ Le Chamboultou zum alten B.B. King, geht mir durch den Kopf.
Ich trabe meine Strecke durch Wald und Feld, und aus dem Humus meines Hirns blubbern sanft Tagesreste, unverdaute Gedankenstücke. Dass ich dabei alleine bin, ist beinahe das Beste daran. Gruppendynamik führt zu nichts. Oder doch.
Zum Fahrradausflugspulk des Louise Rinser-Lesekreises, der teilnahmslos brachial jeden auf breiter Front niederrollt, der nicht sofort in die Böschung prescht. Und Gruppendynamik produziert das „Wir und sonst keiner!“, unterlegt mit multitonalen, polymetrischen Gröhlgesängen aus restlos sinnleeren Silbenreihen sowie dem Wahn, die eigene Bierwampe beherberge den Nabel der Welt und ein drittklassiger Hirnfurz sei ein tragbares Denkmodell, nur weil alle in Blickweite gerade dazu genickt haben.
Nö, ich laufe lieber alleine.
Laufen – na gut: ich zockele locker von hinnen. Salopp, lässig.
So zumindest sehe ich das.
Oder besser: habe es so gesehen. Bis zu dem Tag, an dem ausgerechnet meine Strecke ein paar Hochgeschwindigkeits-Junkies gefiel. Mein auf Autopilot tuckerndes Hirn brütete gerade darüber, was wohl dem Apfelrotkohl passieren würde, wenn ich da mal Birnen statt der Äpfel … , als zwei vollständig in blaue Aerodynamik verpackte Mittzwanziger sich anschickten, an mir vorbei zu ziehen.
Mein munteres „Morgen“ hätte ich mir rückblickend sparen können, denn zurück kam: „Klar, Mann. Trotzdem hättest du ja deinen Schlafanzug gegen Laufzeug wechseln können.“ 
Ok. Diese Zweithauthosen sind nicht mein Stil, ich mag es ein wenig luftiger. Und oben herum darf es gerne ein Kapuzenshirt zwei Nummern über meiner Größe sein.
Am nächsten Tag war ich wieder auf Trab, als die Burschen mit dem niedrigen Luftwiderstand im mentalen ICE-Wahn mich mit einem „Na, biste wieder aus dem Heim ausgerückt?“ überholten. Den beiden folgte ein Trio, militärisch exakt im Gleichlauf, sportmodisch von ihren Vorläufern nicht zu unterscheiden.
Vorsichtig grüßte ich. Was mir von Nummer 1 ein spöttisches Grinsen, von Nummer 2 ein „Nu mach mal hinne, Plumpsack“ und von Nummer 3 ein kryptisches „Der läuft auf Krankenschein“ einbrachte.
Solcherlei Begegnungen waren unglücklicherweise bald an der Tagesordnung.
Und die Kommentare erwiesen sich nicht einmal als gänzlich unkreativ: „Was tanztn du da“, hieß es, oder „Na, schüttelste wieder ab?“, „Komm, Alltah, zieh nicht so ne Furche“, „Speedy Gonzales als Rentner“, „Geh mal deine Abwrackprämie kassieren“ oder schlicht und ergreifend: „Alltah, bist du aaaalt.“
Es war niederschmetternd.
Vor allem, was mit mir geschah.
Statt Thelonious Monk mit Wein oder Couscous-Currys mit getrockneten Cranberrys zu kombinieren, produzierte mein Hirn immer öfter delikate Methoden des Folterns, Zerlegens, Zerstückelns der Lauffaschisten – mit mannigfaltigen Details. Und es wurden von Tag zu Tag mehr – Details wie Beschleunigungsradikalos.
Auf einer Runde kam mir die Idee: Ich ließ mir in einem Copyshop ein paar Sweatshirts mit einem Schriftzug bedrucken. Suave Jogging. Darunter: for a genuine gentle jog trot.
Als beim nächsten Trott einer der Speedprolls zu einem Spruch anhob, lächelte ich verbindlich, zeigte auf mein Shirt und rappte: „Alltah, Maahn. Suave Jogging, du checkst es nicht, oder, Maaahn.“
Zugegeben, daran hatte ich eine Weile hart geprobt. Aber alles in allem funktionierte mein kleiner Plan ganz gut und die Runden wurden wieder entspannt.
Suave Jogging war cool. Es hatte einen Namen, ein Logo und noch wichtiger: niemand wusste eigentlich so recht, was das Ganze sollte – was der Hauptgrund für die Akzeptanz war.
Als mich ein Altersgenosse um einen Suave Jogging-Sweater bat, ließ ich dem Bruder im Geiste so ein Ding zukommen. Begegneten wir uns bei unseren Ausläufen, zwinkerten wir uns verschwörerisch zu.
Zunächst fiel es nicht so auf, aber irgendwann konnte ich es nicht mehr ignorieren: es waren weitere Leute mit einem Suave Jogging-Shirt unterwegs, mit meinem Suave Jogging-Shirt!
Und es wurden zusehends mehr.
Richtig gruselig wurde es, als sich die örtliche Nordic-Walking-Terroreinheit im Wochenblättchen zu Suave Jogging bekannte und fortan im Tross umher trampelte, wie verdauungskranke Tapire.
Den absoluten Rest gab mir, als ich im Fernsehladen ein Kabel besorgen wollte und mein Blick an einem Bildschirm hängen blieb, der einen Shoppingkanal verstrahlte. Und ja – da war der Typ vom Copyshop im Verein mit irgend einem käppibesetzten Rapper, der die ganze Zeit mit seinen Armen schlenkerte und seine Finger in alle möglichen Richtungen spreizte. Penetrant atemlos skandierte der, dass nur hier das einzig echte und allein originale Suave Jogging® -Outfit zu beziehen sei. Das komplette Set bestehend aus „korrekt schwingender Suave Jogging-Legware®“ und den „hammergeilen Suave Jogging-Bodyshapes®“ für nur 111,- Euro. Inklusive Versand. Alles in den colours der season: Chardonnay, Rosé und Cabernet.
„Habe ich auch gerade bestellt“, erfreute mich der Fernsehladenmann. „Es gibt hier sogar eine Gruppe, die sich immer Mittwochs trifft. Kommen Sie doch auch. Nächsten Monat ist der große Suave Jogging-Volkslauf mit mehr als neunhundert Teilnehmern. In der Gruppe geht doch alles besser, nicht wahr!“
Seine Erzählung ging noch irgendwie weiter. Aber ich hörte nicht mehr zu.
Ein Laufband für den Keller vielleicht, ging es mir durch den Kopf.
Oder nur noch das Treppenhaus rauf und runter …?
Boxen vielleicht?
Auf jeden Fall müssen diese Sweatshirts in die Altkleidersammlung.
Sofort!

Andreas Bürgel