Feierabend
You ain’t nothing but … nothing

Die Augen der Kontrolleurin waren starr auf das Band gerichtet.
Schon längst gab es Maschinen, die diesen Job machten, Computercontroller, aber dieser Betrieb war noch nicht umgestellt worden. Und so saßen noch Menschen am Ende der fortwährend laufenden Produktionsbänder, darauf achtend, dass die produzierten Waren den Ansprüchen des Marktes genügten.
War das nicht der Fall – und ihr geübter Blick brauchte nicht lang, um das festzustellen -, griff ihre Hand aufs Band und beendete die Reise des Artikels auf seinem Weg zur Mehrwertrealisierung in einem großen, blauen und extrastarken Plastiksack, noch bevor diese Reise richtig begonnen hatte.
Schon längst lief das automatisch, ohne großes Nachdenken. Ein optischer Fehler, ein Pickel im Design – und weg damit. Ausschuss.
Nachdenken störte hier, Sand im Getriebe. Und was soll man hier auch groß nachdenken, schließlich waren es lediglich Wachsfiguren, die – vom Band transportiert – an ihr vorüberzogen.
Wachshasen, Wachspopstars, Wachsbuddahs, Wachsweihnachtsmänner – je nach Saison und Markt.
Ihre Firma hatte es sogar mit Wachs-Obamas versucht.
Die liefen mal eine Weile recht gut. Von den deutschen Politikern hatten sie lieber die Finger gelassen.
Ausschuss ging zurück an den Anfang aller Wachsfiguren, zurück zum Einschmelzen.
Und da kam ja schon wieder einer.
Die Figur des Tokio-Hotel-Sängers, dessen Namen sie sich nicht merken wollte.
Fanartikel. Sonderserie. Mit einem dicken Wachspickel auf der Nase.
Ein Fall für den blauen Sack.
In zehn Minuten war Feierabend.


Seine Augen verglichen die Zahlen.
Nicht gut.
30,85. 30,97. 30,91 – das war eindeutig nicht gut.
Genügte nicht im Mindesten ihren Ansprüchen.
Sie waren ein ergebnisorientierter Betrieb.
Investitionen, und wenn sie noch so klein waren, mussten sich rentieren.
Kapital musste arbeiten, und zwar derart, dass so etwas wie die neuen Autos für Siobhan und Kevin für den eigenen Finanzhaushalt eine Selbstverständlichkeit darstellten. Und der neue Anbau an seinem Haus mit dem geplanten Privatpub – nur für sich selbst und ein paar Freunde – auch.
30,30 oder – meinetwegen – 30,45, darüber kann man reden. Die müssen dann halt nur noch ein bisschen mehr den Arsch hoch kriegen … „Der bleibt drin“, entschied er, „die da hinten fliegen raus.“
Die beiden Männer erwiderten seinen Blick und nickten. Der eine schnappte sich das Handy, tippte eine Nummer ein. Ohne großes Nachdenken. Wer nachdenken will kuckt sich abends das Fernsehquiz an.
„Wir haben wieder Ausschuss. Drei. Ja, könnt ihr bis morgen abholen, sonst entsorgen wir die.“
Er horchte in sein Telefon. „Ist mir doch egal. Morgen, oder die sind weg.“
Er wandte sich seinem Kollegen zu: „Werden abgeholt“.
Der grunzte und legte die extrastarken blauen Plastiksäcke wieder auf den Stapel. Das Messer steckte er in den Holzblock zurück.
„Dann bringen wir den Rest mal auf Vordermann.“
Sie schlurften dem Gebell entgegen, öffneten jeder eine Box und leinten je einen Hund an.
Zu viert trotteten sie zum Training auf die Bahn.
Noch zwei Stunden bis zum Feierabend.


Langsam normalisieren sich die Wunder und in seinem Blick schwindet das Staunen; der wird abwägender, prüfend, begreifend.
Über einen Monat war er nun hier, fünf Wochen, um genau zu sein.
Keine Käfigbox mehr, welche die Welt in ihrem engen Rahmen verschlang.
Kein Rennen mehr, das Bewegungsfreude auf das stumpfe und reizgesteuerte Explodieren um jeden Preis reduzierte.
Dafür lernen, möglichst gute Entscheidungen zu treffen – was alles andere als leicht ist.
In der Tat ist es sogar echt kompliziert.
Woran zum Teufel soll man denn auch erkennen, dass diese runden Hundekekse gut und diese runden Flaschenverschlüsse weniger gut für einen sind. Das muss man doch mal komplett am Objekt durchspielen, unter Realbedingungen erfahren, oder? Und dass sich dieser hinreißend duftenden Ochsenziemer nicht im Ganzen verschlingen lässt, ist ja nun auch nicht von vornherein ausgemacht.
Dass eine Glastür aussieht, als ließe sie einen einfach so hindurch, ist eine Frechheit, dass sie es nicht tut, ein Sachverhalt, den es erstmal zu ignorieren gilt.
Dreieinhalb Jahre war er nun alt. Doch mit dem Erfahrungshorizont eines Welpen.
Beinahe wäre er auch gar nicht älter geworden als diese 42 Monate, wäre – wie man so sagt – dumm gestorben und in einem dieser extrastarken blauen Plastiksäcke geendet.
Wie das Heer seiner Kumpel, die für nicht aussichtsreich genug gehalten wurden.
Ghostdogs mittlerweile.
Es fehlten immer lediglich ein paar Millisekunden auf der Bahn, die ihn einen Wimpernschlag später als seine Konkurrenten durch das Ziel gehen ließen. Aber über Zeit ließ sich nicht diskutieren. Die ist bekanntlich Geld.
Kasse wird nur mit Gewinnern gemacht, auf die anderen wartete der Sack. Oder die Keule, die Grube, der Teich, die Spritze, die Schlinge – je nach Geschmack und Gefallen der jeweiligen Company.
Doch auch die Gewinner würden nicht viel schlauer werden als ein Welpe.
Dumm gehalten. Ständig im Käfig, ständig mit Maulkorb.
Und von Kindesbeinen einzig darauf trainiert, zu hetzen und zu reißen. Das ergibt ein schmales Erfahrungsfensterchen, aber – so sagen die Trainer – einen echten Rennchampion.
Mit Kaninchen werde sie angefixt. Oder mit Meerschweinchen, weil die besser quieken und dieses Quieken den Instinkt noch ein wenig mehr kitzelt. Die Motivation, Beute zu machen, wird trainiert. Bedingter Reflex. Gehirnwäsche.
Natürlich quieken Kaninchen auch.
Wenn man ihnen die Beine bricht, zum Beispiel.
Derart vorbereitet geben sie dann doch – an eine entsprechende Vorrichtung gehängt – eine den Meerschweinchen gleichwertige Hetzbeute für das Welpentraining ab.
Wer dann in die Renncrew aufgenommen wird, darf zwar weiterleben, kommt aber – außer zu den paar Rennen pro Woche oder ein paar Glücksfällen mal zwischendurch – nicht aus den oftmals nicht größer als 1×1 Meter messenden Käfigen.
Wie viele Greys leben so – und wie viele landen im extrastarken blauen Plastiksack?
Geschätzte Größe der von den Bahnen gholten und an Hundehalter vermittelten Rennhunde: 5% des „Ausschusses“.
Und die Greyhoundproduktion für den Rennmarkt läuft auf Hochtouren. Ständig.
Teilweise unbeachtet, teilweise sogar offiziell subventioniert. Denn im Reiseprospekt steht die Hunderennbahn unter „Folklore“.
Wie lange noch, bis zum Feierabend?

Andreas Bürgel
Willie, Ex-Racer, kurz nach seiner Ankunft in Deutschland
(Musik: „Close your eyes“, Andreas Bürgel).