Wettbewerb. Natürlich

Der Gitarrist auf der linken Bühnenhälfte bringt gerade sein Solo zu Ende; rasante Inventur auf dem Griffbrett, das nunmehr stumm leidend vor Reibungshitze vor sich hin schwitzt. Das Signal für den Gitarristen zur Rechten, seinerseits die Finger zur Parforcejagd abzuleinen. Die Sympathisanten der athletischen Musik vor und auf der Bühne sind begeistert.
Ich schlendere weiter, auf einen beeindruckenden Nagelbalken zu.
Zwei schwitzende Männer, die den Typ Finanzoptimierer Ihres Vertrauens mit klar verdientem Feierabend preiswürdig verkörpern, liefern sich einen Kampf im Zimmermannsnagelinsholzhämmern. Fast scheint der Sieger ausgemacht, doch ein Querschlägerhieb des Beinahechamps trifft den Balken. Stöhnend überlässt er den Hammer dem Boden, seine Mimik schreit „Muskelfaserriss“, sein Mund übersetzt das mit „Scheißendreck!“ ins Banale. Währenddessen verpasst sein Kontrahent dem Riesennagel vor ihm die letzten Hammerschläge und empfängt mit Cäsarengestus den Preis: ein Plastik-Gießkannenset in Kreischgrün.
Das „Große Fest der Familie“ ist gut besucht. Viele Attraktionen. Ü60-Seilziehen. Stiefelwetttrinken des örtlichen Ablegers eines Getränkekonzerns. Das gefällt.
Ein paar Meter vom Nagelbalken ums Eck sehe ich eine kleine, improvisierte Rennstrecke. Mini-Racing erklärt ein Transparent. Ich schätze dreißig Meter zwischen Start- und Ziellinie. Sehe drei Kinder – zwei Mädchen, einen Jungen, etwa drei Jahre alt -, in ihren pedallosen GoKarts sitzend auf den Start warten. Hinter den Kids proben die Eltern schon mal das Bruststolzschwellen, sowas wird am Ende eines Wettkampfs ja gebraucht; zumindest wenn der eigene Sprössling die schon bereit liegende, frisch vom Computerdrucker durchgekaute Selfmade-Urkunde mit nach Hause nehmen wird.
„Das schaffst du“.
„Gib ordentlich Stoff.“
„Mein tapferer Rennfahrer.“
Konkurrierende parentale Zusprüche kreuzen sich auf ihren Wegen zu den jeweiligen Kinderohren, rempeln sich rüde an, kratzen und beißen ein wenig.
Nun zieht ein bellendes „Achtung“ ein hungrig klingendes „Fertig“ nach sich, mündet in ein energiegeladenes „Los“.
Die Eltern ballen Fäuste, knacken Knie und knirschen Zähne, dass sich der Orthopäde ärgert, nicht noch einen Zweitjob als Zahnarzt zu haben. Der zur Rennstrecke beförderte Weg duckt sich ein wenig in Erwartung der stampfenden Kinderfüße und rumpelnden Kartreifen. Und wundert sich dann über die plötzliche Stille.
Bewegungslose Karts.
Der Junge hat einen Zeigefinger (den rechten) im Nasenloch (dem linken), und perfektioniert sein Popellooping, das – bei all der Konzentration – in jeder Hinsicht legendär werden wird, da bin ich sicher. Die Mädchen schauen sich lachend an.
Die Eltern hingegen schalten in den Hüpfmodus, brüllen ihren Nachfahren einen Kakophoniekompott zu. Die Mädchen verstehen das Anliegen der Eltern irgendwie, trampeln drauflos. Jedes Fußscharren bringt die GoKarts ein paar Zentimeter voran. Die ersten Meter liegen sie gleichauf, das Publikum jodelt. Doch dann scharrt nur noch das eine der beiden Mädels weiter.
Das andere findet: der Vogel, der sich gerade in diesem Busch am Rennweg putzt, hat ein wenig Aufmerksamkeit verdient. Da nützt kein mütterliches Kreischen, kein väterliches Flehen; da gehört der Kopf erst einmal nach rechts, dann nach links gelegt. So ein Vogel sieht ja nicht aus allen Perspektiven gleich aus.
Als das nicht so vogelaffine Mädchen die Ziellinie überquert, patscht der kleine Popelakrobat von der Startlinie aus begeistert in die Hände. Das Vogelmädchen lacht zustimmend. Die Zielüberquererin sucht den Blick ihrer Eltern und ist’s zufrieden.
Was auf die Elternpaare der Hobbyornithologin und des Nasenforschers nicht unbedingt zutrifft.
„Nehmen Sie’s nicht tragisch, die lernen das noch. Wettbewerb ist ja angeboren, liegt in der Natur des Menschen, sonst wären wir längst ausgestorben“, tröstet der vorbeikommende finanzoptimierende Querhämmerer die vier – was Kumpelstil hat und daher von den Vätern mit Klapsen auf den Oberarm des Finanzproduzenten belohnt gehört. Der Höllenschmerz in den gerissenen Muskelfasern gehört seinerseits heldisch weggesteckt.
Derweil strahlen sich die drei Rennknirpse an und erobern die unweite Hüpfburg, hopsen gemeinsam ein paar Runden.
Das „Na, wer von euch kann am höchsten?“ der resoluten Brünetten am Rand der Gummikissenquader ignorieren sie.
Manchen erreicht der Ruf dieser Natur eben nicht.
Es gibt noch Hoffnung.

Andreas Bürgel
5. Juni 2015