Strukturverbesserung
Die Whiskas-Behauptung

„Hamse’n Taxi draußen warten oder kommense zu spät zum Blind-Date?“
Der Typ ist gut zwei Meter groß, trägt ganz oben einen dezent eingefärbten Irokesen und ganz unten klobige Treter, deren bloßer Anblick mir umgehend Wadenmuskelkater beschert.
Und er ist genervt. Schwer. Kann man ihm aber auch nicht verübeln.
Schließlich fangen auch deutlich über Normalnull verortete Ohren zu jucken an wenn sie unter permanentem Schallwellenbeschuss stehen. In diesem Fall von rechts unten. Ziemlich weit unten: die als Quelle des akustischen Affronts ausgemachte knapp 70jährige misst geschätzte Einsfünfzig. Höchstens. Denn eigentlich müsste man ihre sich willig als Billigperücke outende Kopftracht noch abziehen. Das Ding trägt ordentlich auf.
Erinnert mich sofort an meine Oma. Die trug auch immer so eine. Uns Omi meinte, Dederon – oder aus was auch immer der Putz gewerkelt war – käme besser als ihre mühsam selbst gezogenen Haupthaare. Mehr Leuchtkraft, du verstehst, bessere Strähnendicke. Und überhaupt könne man den Unterschied zum naturechten Biogewächs ja doch gar nicht wirklich sehen.
Im Fall der Dame vor mir in der Schlange allerdings bin ich mir nicht wirklich sicher, ob die Wahl dieses Haarhelms einzig und allein dem Geschmack der Trägerin geschuldet ist. Immerhin hat die Bundesregierung ja gerade mal wieder offiziell gemacht, dass Löhne und Renten am Abtauchen sind wie havarierende Bohrinseln. Allerdings meinen unsere hochdotierten Demokratieprofis, dass sinkende Reallöhne – wie war das gleich – Ausdruck struktureller Verbesserungen sind. Und natürlich gilt auch vice versa: strukturelle Verbesserungen sind auch Ausdruck sinkender Einkommen.
Nimm bloß die Billigperücke hier; wenngleich die sich auch nicht gerade lockt wie Rapunzels Pracht, so hat das Ding unzweifelhaft Struktur und auch der Nieselregen draußen hat gegen die keine Chance. In regelmäßigen Abständen perlt immer noch die eine oder andere Feuchtigkeit zu einem Tropfen gesammelt mit kessem Hüftschwung von den artifiziellen Dauerwellen ab. So ein sauteures Echthaarding hingegen wäre schon ruckzuck durch, rein nässetechnisch gesehen.
Wenn das keine strukturelle Verbesserung infolge sinkender Geldmasse ist, was dann?
Der Irokese scheint für seinen Teil derweil andere Gedanken zu pflegen.
Den dauerredenden Einsfünfzig neben sich rät er therapeutenmäßig: „Haltense doch einfach mal die Bappen. Einatmen, ausatmen. Das entspannt, werdense sehen.“ Und ja, die Ansage hat wahrlich seinen Grund, kannst du glauben. Seit zehn Minuten hörst du von der Frau mit dem – wenngleich nicht goldenen so doch irgendwie betonfarbenen – Helm nichts als Nörgeleien auf Endausscheidungsniveau bei der Querulantentrophy. Teenies beim Zwangsgeburtstagskaffeekränzchen von Großtante Helmi sind nichts dagegen. Schneller müsse das hier gehen hatte sie an die 80mal gezetert, womit sie für die meisten unter den Anwesenden noch Recht hatte.
Denn zwar ist es nicht die Schuld des Bäckers, dass sich der halbe Ort mittlerweile auf seine und nur seine Backwaren gespitzt hat, wohl aber, dass er zum Wochenende nicht genug freudige Bedienkräfte hinter dem Tresen einsetzt. Und wenn, dann ist die Hälfte von ihnen mit Frühstücksbrötchenschmieren und O-saftpressen für die Sitzgäste kaltgestellt.
Als die kritische Kritikerin vor ein paar Minuten dann aber damit anfing, dass es so was zu ihrer Zeit nicht gegeben habe und heutzutage überall nur noch faules Gesocks anzutreffen sei, straffte sich der eine oder andere Rücken in der Schlange. Immerhin ist das ein Vorort hier und in jedem Zufallspulk finden sich spontan mindestens ein halbes Dutzend Leute, die sich einen Kegelclub, die Preisskatrunde oder Nachbarschaftswache teilen. Und natürlich sind da auch Thekenkräfte in der Backwarenausgabe mit von der Partie. Kein Wunder sage ich, dass sich nach dem „kommt mal in die Gänge ihr Gurken“ der Irokese schlicht gedrängt fühlt sich sanft der Dame anzunehmen.
Die hat ihrerseits nur ein „Waaas?!“ (so wie in „Was zur Hölle willst du Vorprogramm im Spiel des Lebens ausgerechnet von mir?“) für den Muskelberg übrig. War wahrscheinlich zu ihrer Zeit Kolonnenführerin im Schlachthof, Stuka-Fliegerin oder Managerin bei McDonald und hatte es mit ganz anderen Formaten zu tun.
So kommt es, dass der Mann die Stirn runzelt, die Achseln zum Stiernacken hochzucken lässt und mit einer wischenden Handbewegung ein „Komm, gehnsemal vor“ brummt. Was ihm mit „Das gehört sich auch so“ quittiert wird.
Sein „Gern geschehen“ klingt wie die Art von Behauptung, die sich selbst beim bloßen Aussprechen zu Feinstaub pulverisiert. Klassisches Beispiel: diese Whiskas-Behauptung, du weißt, dass Katzen diesen Kram kaufen würden. Als ob die dann wüssten wohin mit dem Wechselgeld. Oder die, dass das Inwasserrühren von Chemiebaukastenpaste aus dem Convenience-Regal des Supermarkts nicht bloß dein ganzes Viertel mit einem klebrigen Mief überzieht wenn mal jemand unachtsam das Fenster offen lässt, sondern ruckzuck eine selbstgemachte Soße ergibt. Ja, so eine Whiskas-Behauptung war dies „Gern geschehen“ auch.
Das nun vorgebrachte „Krustenbrot, aber mit heller Rinde!“ macht klar, dass diese Whiskas-Sache reinweg an der Dame vorübergeht. Dass das Krustenbrot hier ausgebacken und somit kross und dunkelbraun ist, wie der beschürzte junge Mann mit dem kundenorientierten Lächeln beteuert, ist ihr ebenso egal. Helle Kruste. Punkt.
Wie es dann mit einem Buttermilchbrot wäre, das wäre …
„Abfall! Buttermilch ist Abfall. Ab – fall!“
Nun musst du wissen, dass für die in der Pole Position Befindlichen Realität oft etwas anderes bedeutet als für die, welche die ganze Zeit von den vor ihnen ausgestoßenen Emissionen benebelt werden; das gilt in der Brötchenschlange ebenso wie in der Politik. Hat ja der Bundesrösler gerade erst wieder gezeigt. Mit diesem Armutsbericht, du weißt schon. Da waren ja Aussagen drin, die irgendwie nicht mit der Position der Bundesregierung übereinstimmten. Dass Alleinstehende mit einem Vollzeitjob ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können zum Beispiel. Naja, das entsprach nicht dem „Standpunkt“ des Bundesrösler. Nicht seiner Pole-Position-Realität. Also weg damit. Gelumpse. Quasi Buttermilch.
Mit verhandlerischem Geschick kann der Brotzwist an der Bäcker-Pole mit einem blassen Korbgerster beigelegt werden. So wie die Diskussion um diesen vermaledeiten Bericht zwischen den Koalitionären der Regierung im Prinzip ja auch, obwohl das in Berlin schon ein arg blasses Gerster ergab.
„Geschnitten, auf 7.“
„Es gibt nur 6 und 8“, weiß der Backwarenfachverkäufer.
„Nonsens. 1,2,3,4,5,6 und jetzt Obacht: SIE–BEN, 8,9,10.“ Lehrer Lämpel nichts dagegen.
„Aber nicht auf der Maschine. Da sind 2,4,6,8,10.“
„Dann schneid eben dazwischen.“
Die Frau war keine Stuka-Fliegerin. Politikerin – kristallklar.
„Wie dazwischen?“
„Zwischen 6 und 8.“
„Da ist nichts dazwischen.“
Eine ältere Kollegin nimmt sich mit schnellem Griff des Gersters an und hat die Schnitten express durchgeorgelt. Auf 8, wie wir alle vermuten.
Perücke aber ist es zufrieden. „Geht doch.“ Knarzt es. „Und dann noch einen Semmel ohne alles.“
Also quasi die strukturverbesserte Version.
„Wir haben nur mit Rosinen.“
Was sich ändern wird, denke ich bei mir, bei den Rosinenpreisen.
„Ohne!“ Wieder die Realitätenfrage.
„Wie wäre es mit einem Butterzopf“, die ältere Kollegin, „der ist wie ein Semmel nur ohne Rosinen.“
„Schön. Aber nur dies eine mal.“
Was wahrscheinlich auch klar gehen wird. Denn spätestens vor dem nächsten Armutsbericht gibt’s den eh nur noch mit Margarine.
Mit einem „Wir wünschen einen schönen Tag“ wird Betonhelm verabschiedet.
So wie vor ein paar Tagen der Bundesbericht.
Eine Whiskas-Behauptung?
Darauf kannst du einen lassen.

Andreas Bürgel
November 2012