Humbatätärää

Noch ein Griff in die Plattenkiste. Ein ganz tiefer dazu.
Fördert irgend etwas wie britischen Krautrock zutage:

SNOWBALL
Defroster.

Als ich 1978 an einem Tag aus der Schule trat, wartete überraschend ein langhaariger Mensch mit breitem Lächeln auf mich; wollte mich nach Hause fahren und mir auf der Fahrt einen Vorschlag machen. Nun weiss ja eigentlich jedes Kind, was von lächelnden Männern mit Autos und unvermittelten Mitfahrangeboten zu halten ist. Aber – schulpflichtigkeit hin oder her – ein Kind war ich doch schon lange nicht mehr. Oder?
Also, klar, fuhr ich mit. Allein schon aus Solidarität der Langhaarträger. Soll das Fahrrad doch allein nach Hause finden.
Sein angekündigter Vorschlag nun war, in einer Band die Tasten zu übernehmen, deren Name ich heute nicht mehr weiß, die damals aber einen ausgezeichneten lokalen Ruf hatte. Was ich allerdings noch genau weiß ist, dass im Kassettenfach des Autoradios Musik von der neuen Curt Cress-Produktion lief; Snowball: Defroster.
Ebenfalls gegenwärtig ist mir, dass ich bei nächster Gelegenheit und Barschaftsgegenwart eine Pressung der Defroster besorgte, für DM 17,90.
Vor Kurzem nun fällt mir die Platte mit dem Cover, auf dessen Rückseite eine Ablichtung von vier Herren Platz gefunden hat, die der Newtonschen Schwerkraft nachzugeben scheinen, wieder in die Hände.
Roye Albrighton, Dave King, Curt Cress und Kristian Schultze hocken, liegen, lümmeln sich vor einem Fotografen; nur letzterer (Schultze, nicht der Fotograf …) scheint bereit gewesen zu sein, einen kleinen Flirt mit der Kamera einzugehen.

Snowball: Defroster

Snowball: Defroster

Defroster ist die erste Platte der 1977 von Curt Cress und Dave King gegründeten Band, die (irgendwie) bis 1981 halten sollte. Zwei weitere LPs sollten bis dahin noch folgen.

Es sind häufig stilistische Parallelen zwischen Snowball und Passport gezogen worden – der Vergleich liegt in der Luft, sind doch drei der Snowball-Musiker eine zeitlang mitverantwortlich für den Passport-Sound gewesen.
Und es war kein Jahr her, dass Curt Cress bei Doldinger ausgestiegen war, um sich in der deutschen Rockszene ein wenig zu tummeln, als Defroster eingespielt wurde. Sicher hört man Stimmungen, die in einigen anderen Bands jener Zeit ebenso gepflegt wurden. Snowball aber lässt es immer wieder auf ganz eigene Weise … funken.
Der Sound der Defroster kommt klar und differenziert vom Vinyl. Differenziert sind auch die musikalischen Inhalte. Auch wenn man sich sicher fühlt und beim Hören der Scheibe einfach nur einem schönen Vokalbogen über farbigen Harmoniestrukturen folgt, blitzt plötzlich dieser typische Snowball-Funk auf und macht die Ohren wieder wach.
So bereits beim ersten Titel der Platte: „Hold on“. Ein Melodieschweif mit Text, dessen Silben einen guten „Blend“ geben,bunte Akkorde darunter, genau der richtige Drive vom Drumset holt dich ab. Du sagst dir: „weiß Bescheid“, doch dann kickt dir dieser Funk seinen eckigen Ellenbogen in die Muschel. Nur kurz zwar, doch die Idee bleibt: hier ist nichts wirklich popnietengesichert. Und tatsächlich wirst du dich gleich fragen: was ist denn plötzlich mit „Hold on“ passiert?
Heimlich und leise transformiert sich das Stück in seinen Nachbarn „Tender Storm“ – auf eine Weise, die beide Stücke fast zusammen(ge)hören lassen.
Gerade die 70er waren nun durchaus die Zeit, in der Titel die disziplinierte 3Minuten30-Marke weit hinter sich lassen konnten. Und nicht wenige Stücke wiesen weit mehr als die übliche Songstruktur auf. Doch Snowball schien das in diesem Fall vielleicht ein wenig zu konstruiert … und so gibt es einen eigenen Titel für den zweiten Teil.
„Tender Storm“ hat einen leicht spacigen Flow über einer sich einschleichenden, mantrischen Bassfigur. Die Ruhe des Lead-Synths über dieser Nummer und die überlegt gesetzten E-Piano – Akkorde werden auf sanfte Art von einer sich aufbauenden, vitalen Perkussion kontrastiert.
Ein introvertierter 6/8-Funk, „Devils Demons“ benamt, folgt dem nach. Wie auf der ganzen LP spielen auch hier die Keyboards die zentrale Rolle – auch wenn Roye Albrighton hin und wieder, so auch hier, die Gitarre zum solieren bringt. Jazzig eingefärbte Akkorde, ein down-to-earth – Bass und ein nie langweiliges Drumset setzen hier die Marker, zwischen denen sich das Stück entwickelt.
Ein schönes Gitarrenthema bietet „Country Dawn“. Nach etwas Feinmechanik der Sticks von Cress und einem Aufgesang des Lead-Synths werden die Töne für das Thema ruhig und überlegt vor schwebenden Akkorden der Tasten gesetzt. Gefunkt wird erwartungs- und standesgemäß im Improteil; doch niemals so, dass man Angst hätte, die Jungs könnten die Kontrolle verlieren. Kontrollierte Energie ist das Stichwort.
„Backfire“ ist als Titel angesichts der hohen Backingtemperaturen dieses Snowball-Paradefunks durchaus passend. Wieder eine Nummer für eine längere Autobahntour.
„Lilli Henry“ grooved im Bauch, aber so, dass man dabei gefahrlos und entspannt frühstücken könnte. Das Thema des mit 75 Vierteln pro Minute federnden Instrumentaltitels ist eher spartanisch ausgestaltet, gibt Schultze aber wieder genügend Raum für wohlgesetzte Lead-Synth-Linien.
Nach einem eher introspektivem Opener, bietet „Paradise“ Rocklicks, die Sprösslinge einer Straßenbegegnung von Deep-Purple mit den Crusaders sein könnten. Auch dieser Titel spielt sich im Spannungsfeld von „zupacken“ bis „fließen lassen“ ab – ebenfalls eine Snowball-Spezialität dieser LP.
Gleich wieder erfahrbar beim Titelsong „Defroster“, der mit einem Krautrockthema beginnt, bei dem Cress so richtig schön die Becken prügeln kann. Ein funkiges Interlude öffnet den Synthi-Raum; Flächen mit dem Lead drüber, sich aufbauende rhythmische Strukturen. Dann wieder die Filigransticks von Cress, zusammen mit einer Keyboardfläche der Untergrund für Dave Kings Bass, der sich mal solistisch erhebt. Nach dem wiederkehrenden Krautrockthema schließt dieses Stück ab wie eine gut erzählte Geschichte.
Mit „Shade“ wirft die Platte in der Tat seinen musikalischen Schatten zurück. Ein wenig unscharf, etwas ausgeblichen; ein vornehmlich akkordisches Keyboardfeature zum Ausschwingen. Streck- und Dehnübungen nach einem befriedigenden Lauf.
Was zu sagen bleibt ist, dass die DM 17,90 von damals wirklich gut angelegt waren.
Snowball hat (zumindest mir) noch etwas zu sagen – und warum dann nicht auch zuhören?

Andreas Bürgel