Kafffe

Kapitaler Wein
Oder: Kein Masseto für mich

Schuljahrgangstreffen – diese Veteranendinger, Wiedersehen nach 30 Jahren und alles – Minenfeld ist ein lockerer Trimmpfad dagegen.
Glaub mir, du wirst deiner erste Freundin mit einem „sag nichts, ich komm noch auf deinen Namen, aber irgendwie kriege ich dich gerade nicht so recht unter“ ins Gesicht blicken (das Leben geht halt an keinem nur einfach freundlich grüßend vorbei) und bekommst dieses leichte Schämrot dann den halben Abend nicht mehr aus dem Gesicht. Deine alten Kumpels werden sich als alternde Machos mit Torschlusspanik erweisen, die beim Anbaggern keine Peinlichkeit auslassen. Und ziemlich früh am Abend schon wird irgendjemand damit anfangen, das garantiert Schlechteste der damaligen Songs aufzulegen, nur weil er meint, dass jegliche Diarrhöe der Musikindustrie Kult wird, wenn sie nur lange genug in irgend einer Ecke vor sich hingegammelt hat. Dein damaliger Klassenlehrer taucht auf, der, den du damals schon alt fandst und der rätselhafterweise noch immer an dieser Schule unterrichtet. Den Rest des Abends wirst du dich über „Brown girl in the ring“ und Cliff Richards über den Tisch voller Pastareste anbrüllen und gegen Mitternacht eine Nachzahlung leisten, weil der Pauschalbetrag aufgetrunken wurde.
Wenn du also deine Einladung zu so etwas im Briefkasten findest, schmeiß den Wisch weg. Ungelesen. Denk erst gar nicht drüber nach.
Schlimmer aber als das ist, wenn – nein, ich erzähle es dir anders:

Ich radele gerade durch die Siedlung am Wald, als jemand meinen Spitznamen mit einem kleinen fragenden Unterton hinter mir her ruft. Niemand nennt mich bei einem Spitznamen, schon gar nicht bei meinem. Nicht seit Ende der Schulzeit. Kein Wunder also, dass Pawlow die Hunde feilässt und Proust seine Madeleines nach mir wirft; sofortige Flashbacks, dann Rückblende, ich in den 70ern und ganz frühen 80er Jahren. Kein Film, den ich mir ansehen möchte: marodierende Hormone im Clinch mit intravenös verabreichtem Katholizismus. Klar, dass ich den Ruf automatisch ignoriere und weiter in die Pedale trete. Doch die Neugier fängt an die Hunde zu verjagen und die Madeleines aufzufuttern um dann zu allem Überfluss abzubremsen. So drehen wir also um.
Männlich, mein Alter, knielange Hosen, Strohhut über einem erwartungsfrohen Grinsen, Typ jüngerer Redford, zugedrehter Gartenschlauch in der Hand. Um ihn herum ein Florahabitat in gefühlter Yellowstone-Größe. Der Nachname fällt mir ein: Esberg.
Wir hatten zusammen Musik in der Schule. Irgendwann behauptete er mal, er könne Kreuz- und B-Tonarten durch ihren Klang voneinander unterscheiden.
„Disberg!“, rufe ich ihm zu und erhalte ein eher gequältes Lächeln als Quittung. Spitznamen sind nicht tot, sie riechen nur komisch.
Er war vor einem Jahr hergezogen. Vorher in Frankfurt. Davor lange in Oslo. Unternehmensberater eigentlich, aber vor allem Glücksritter an der Börse. „Bevor der Neue Markt zur alten Scheiße wurde“, sagt er grinsend. „Na los, rein mit dir. Auf ein Glas?“
Ich finde mich nach einem ordentlichen Fußmarsch zwischen Heckenpflanzen auf einer Terrasse mit Blick aufs Grüne wieder. Esberg war verschwunden um etwas aus dem Keller zu holen. Ein Wasserspiel beginnt mit einem Rauschen in einiger Entfernung loszulegen. In Intervallen drücken Düsen Geysire aus einem Teich.
„Libra“, sagt der wieder auftauchende Esberg mit einem Nicken in Richtung feuchte Fröhlichkeit und stellt einen 2006er Masseto und zwei Zalto Bordeaux auf den Tisch.
„Sein Sternzeichen, die Waage“. Die Frau, irgendwo Ende Zwanzig, die in seinem Schlepptau aus dem Haus tritt, strahlt mich an. Irgendetwas sagt mir, dass es sich bei dem Blondschopf hier nicht um Esbergs Tochter handelt. „Wir haben unsere Deckenlampen im Salon und den Brunnen nach seinem Sternbild anlegen lassen.“
„Jaha, wer nicht!“, jubele ich.
„Ich habe euch Kaffee gemacht, da könnt ihr über alte Zeiten …“ Sagt es und stellt bevor sie wieder abdreht ein Tablett mit zwei Tassen und einer Kanne, die aussehen wie im Schloss Sanssouci geklemmt, auf den Tisch.
Esberg schenkt Kaffee ein, deutet dabei auf den Masseto. „Du trinkst doch Wein?“
Ich nicke grinsend.
„Milch, Zucker?“
Irgendetwas läuft hier zwar mächtig schief, aber ich grinse immer noch und verneine.
„Der Petrus aus Italien.“ Esberg forscht in meinem Gesicht.
„Scheint ein internationales Franchise-Unternehmen zu sein, dieses Petrus“, stichele ich, wiegele aber sofort mit hochgestellter Hand ab. „Schon klar.“
Wir trinken einen Schluck Kaffee.
„99 Parker-Punkte. 98 Wine Spectator.“
„Man sollte alle Punkte zusammenrechnen, spart Zeit und ist vor allen Dingen noch beeindruckender. Also Parker plus Gabriel plus Falstaff plus …“
„Schon klar“, diesmal von Esberg. „Sarkasmus?“
„Aber nein.“ Diesmal sicher.
„Und du, was machst du?“
Ich werfe ein paar Worte auf den Tisch – Musiker, Unterrichten -, die sich hier jedoch unwohl fühlen und heimlich, still und leise die Biege machen. Esberg sieht ihnen kurz nach und flüstert: „Meine Frau ist in der Musikbranche. A&R.“ Meine Chance auf einen Spontananschlag, geht es mir durch den Kopf. Keine Verbindung, kaum Risiko. Aber man müsste sie alle auf einmal erwischen, sonst bringt’s nichts. Ich schüttele den Gedanken ab.
„24 Monate Barrique“, holte mich Esberg endgültig in die terrassierte Wirklichkeit der Siedlung am Wald zurück und schenkt dabei noch einmal Kaffee nach.
Kaffee. Und die Flasche weiterhin zu, die Zaltos immer noch leer. Und wie hier etwas schief läuft.
„Habe ich zuerst im Big Apple probiert. Ein Kunde nahm mich mit ins Eleven Madison Park. Vertikaldegu. Kleine Runde. Na, der Spaß kostete ja auch ein paar Scheinchen, muss ein alter Mann viel für Stricken, hörhörhör.“
„Ich habe Masseto auch schon mal …“, setze ich an, aber Esberg kommt gerade in Fahrt.
„Rarer Stoff. Super Investition. Bessere Rendite als auf dem Goldmarkt, wenn du es richtig anstellst. Macht locker mal 140% in drei Jahren. 2010 hat der im Vergleich zu 2009 einen Zuwachs von 41% erzielt. Ein-und-vier-zig Pro-zent!“
„Der Waaahnsinn“, steuere ich halbherzig bei.
„Bei Sothebys im Big Apple hat Masseto 2007 49.000 Dollar gebracht. War allerdings eine Nebukadnezar.“
„Mit Pfand?“ nuschele ich.
Aber Esberg ist nicht zu stoppen.
„Weißt du was ich bezahlt habe, gerade mal 500 Otten. Der hat echt alles. Als Kapitalanlage. Aber natürlich auch nur so. Also quasi als Wein.“
„Wir fanden den vor ein paar Monaten in einer Blindprobe eigentlich …“, versuche ich mein Glück, doch Esberg platzt los: „Super, nicht wahr. Suuuuper. Weiß jeder. Von Hong Kong …“
„… bis zum Big Apple“ ergänze ich. Tatsächlich war unsere Runde insgesamt nicht einhellig begeistert. Als Verdächtigen blind benannt hatte ihn zwar jemand – dennoch erstarrte niemand in Ehrfurcht. Ein erfolgsgewohnter Showmaster, der etwas dick auftrug und es vorzog, etwas zu explizite Witze zu reißen.
„International der Num-ber-One-Mer-lot!“
„Bernhard, denkst du an die Zeit?“ flötet es aus dem Haus und Blondschopf tritt über die Maßen lächelnd in den Türrahmen. „Wenn er beim Wein sitzt, vergisst er einfach alles.“
Esberg blickt auf die Uhr und steht auf.
„Oh shit, Alter. Ich muss los. Sorry, du. Man sieht sich!“
Nicht, wenn ich das irgendwie verhindern kann.
„Klar, Disberg. Und danke für den, äh, Masseto.“
Mein Blick bleibt kurz an der Flasche hängen.
Unglaublicher Wein. Man muss ihn gar nicht öffnen.

Andreas Bürgel