Erwin

Hmmpff

Vorstadtmitternacht.
Erwin und ich sind auf dem Heimweg, ein paar Blocks vor unserem Ziel.
Ein Auto fährt mit einsatzfreudigen 90 km/h Minimum an uns vorbei, zwei Katzen kreischen sich irgendwo an. Dann: nur das suburbane Grundrauschen, Null Pegelausschlag.
„Ruhe ist Krawall der Einfalt“, überlegt Erwin. „In der Ruhe wird der Mensch bräsig, dumpf.“
Ich erlaube mir ein „Hmmpff“ als Kommentar.
Wenn Erwin seine brüterischen Minuten hat, darfst du ihn nicht ermutigen. Ich sage ja nicht, dass er mit seinen Brütereien immer völlig daneben liegt, aber er übertreibt dann gerne, der Erwin, frage nicht. Und wenn du drauf einsteigst, erlebst du, wie man Übertreibung übertreiben kann.
Pass auf: du kennst doch diese Bücherschränke, die jetzt überall aufgestellt werden, damit die Leute abends im Dunkeln ihre alten Konsaliks schamreduziert entsorgen und die Antiquare kostenloses Zeug für ihre Regale abgreifen können. Letzte Woche nahm Erwin aus so einem Ding einen neuen Duden raus und versenkte den im nächsten Papierkorb.
„Falsche Sicherheit“, wetterte er. Und ich Dödel tappte in die Falle, fragte, was er meine.
Eine satte Stunde bekam ich „schändliche Absolutheitsvortäuschung“, „perverse Deutungshoheit“ und „vorgeblich Unhinterfragbares“ um die Ohren gehauen, gefolgt von einem Tagesseminar über den erschütternden Sachverhalt, dass das Wort „haben“ trotz seiner offenkundigen Unbrauchbarkeit noch im Umlauf ist; denn wie könne man sowohl eine Idee als auch ein Wurstbrötchen gleichermaßen „haben“, einen Schulabschluss und Durchfall, etc. pp.
Solche Erfahrungen lehren dich den Gebrauch latent zustimmender, aber wenig anfeuernder Kommentare.
Wie „Hmmpff“.
Klappt auch diesmal und wir trotten weiter. Die Bürgersteige im Ort sind schmaler geworden, teilen sich zudem ihr Areal mit Fahrradstreifen, die sie mittig durchschneiden. Sozialprojektfinanzierte Aufwertung des Viertels, das jetzt einen beeindruckenden Zuwachs an Pflanzkübeln, Parkbuchten und Fahrradunfällen zum Nachteil von hechtsprungunwilligen Fußgängern aufzuweisen hat.
Sie sind zu viert, bereits aus der Ferne in der momentanen Stille 1a vernehmbar. Beim Näherkommen in dreimal männlich, einmal weiblich unterscheidbar. Zweimal Basecaps auf links, einmal Beanie, einmal Barhaupt. Sprachmelodie, Körpersprache – der überstrapazierte, schale Text. Eine abgenudelte Szene aus einem D-Movie, Ghetto-Style in Calenberger Provinznestausführung.
Die vier nehmen den größten Teil des Fußwegs ein und haben selbstverständlich nicht vor, das zu ändern. Der Linksaußen der Gruppe – klein, dürr, Tarnjacke mit Pegida-Aufkleber quer über der Brusttasche – fixiert seinen Kurs konzentriert. Klar, was folgen wird, seine Rolle ist offensichtlich. So wird der Rempler mit dem Arm im Vorbeigehen – wenig überraschend – durch das Folgeklischee „Ääiy, passoch auffu Wixxarr“ komplettiert.
Erwin und ich bleiben nach zwei, drei weiteren Schritten stehen. Im Umdrehen fragt Erwin, fast ein wenig gelangweilt: „Wie wäre es mit einem anderen Regisseur, wenn du schon derart fixiert in deinem Rollenprofil steckst.“
Offenbar will auch dieser Typ – auf ganz intuitiver Ebene – Erwin nicht ermutigen, jedenfalls kommt von ihm kein Wort. So gehen wir weiter.
Sechs Schritte später allerdings folgt uns ein „P-P-P-Pussy, du“, das rasch Gesellschaft bekommt und zu einem vierstimmigen Pussy-Kehrvers anwächst, der uns eine Weile verfolgt.
„Rollenklischees“, murmelt Erwin, „schlimm.“
„Übermotiviert interpretiert?“, frage ich.
„Laienposse“, winkt er ab. „Wie wär’s – noch auf ein Schlückchen zu mir?“
„Damit wir unseren Rollen gerecht werden?“
„Genau.“
Und so finde ich mich vor den vier Flaschen auf Erwins Küchentisch. Weinflaschen.
Foradoris 13er Nosiola-Interpretation „Fontanasanta“, der 11er Teroldego „Morei“, die 11er Liaison von Enderle & Moll und deren 12er „Muschelkalk“-Pinot.
„Die Foradoris sind drei Tage offen“, sagt Erwin. Und die Luft scheinen sie gebraucht zu haben. Hat schon mal jemand kontemplative Purzelbäume geschlagen? Der Nosiola kann das. Und der Morei ist ein beeindruckendes Teroldego-Denkmal. Der Liaison ist kommunikativ und voller Spannung, der Muschelkalk straff, klar und in Zehnminutenschritten stetig wachsend.
Ausgeprägte Individualereignisse, jeder einzelnen von ihnen.
„Dieses fulminante Zusammenwirken von Körper und Seele“, muss ich Erwin unbedingt erläutern, während der Muschelkalk ein paar Runden im Glas dreht. „Absolut aufgeklärter Ausdrucks- und Kommunikationshabitus. Diese Rollen hier sind transparent erlebbar, jede einzelne von ihnen, da sie vorbehaltlos verkörpert werden, nicht wahr? Spannung, Intensität, Authentizität. Method acting. Du hast vollkommen recht, Erwin – alles spielt allemal eine Rolle, aber es kommt darauf an, sie zu definieren, zu füllen, kurz: es kommt auf den Regisseur an. Und bei diesen Weinen: emanzipierte Regisseure, bereit, Raum zu gewähren. Kein Pathos, sondern Emphase, der ausgesprochen unausgesprochene Hier-bin ich-Wein,-hier-darf-ich-sein-Moment, stimmt’s Erwin?
Erwin.
Erwin?“
„Hmmpff“, sagt er.
Nachdrücklich.

Andreas Bürgel
foradori_enderle&moll