Karikatur - Johanna Pietrek

Perspektiven

Der Raum muss aus einer Dickens-Erzählung ausgebüchst sein: holzgetäfelte Wände, Holzstühle mit unbequemen Lehnen und geschwungenen Armstützen. Der Teppich: dick genug für versteckspielende Hamster. Die massive Tür gegenüber dem Kamin bietet Durchlass für eine Elefantenprozession. Ich sitze an einem gravitätisch wirkenden Mahagonitisch und lausche einer Rede über das alte «Alles fließt»-Thema.
Du weißt schon: niemals steigst du zweimal in denselben Fluss, weil das Wasser deines letzten Bads einen Trip ans Meer gemacht hat. Nur dass der Redner die Erkenntnis der allumfassenden Veränderung am Thema Wein durchspielt. Wenig spannend; als ob Wein etwas anderes übrig bliebe als dem vergessenen Kanten Brot, einem Paar Schuhe oder der vor sechs Wochen teuer bezahlten Frisur. Aber meine vier Mithörer sind sichtlich bewegt und kollektiv mit der Aufzucht einer kapitalen Andacht befasst.
«Niemals», der Redner lässt das Wort eine Weile in der Luft hängen und zwei, drei Klimmzüge machen, bevor er ein energischeres «Niemals» hinterherschickt, das Kraft genug hat, den Rest des Satzes hinter sich herzuziehen: «Niemals trinkst du zweimal denselben Wein. Fas-zi-nie-rend.»
Wir schauen den abschließenden Silben zu, wie sie sich mühsam strecken um sich dann doch noch zu einem Wort zu vereinen. Applaus.
Ich hatte Konrad, den Redner, vor zwei Wochen bei einer Weinprobe getroffen. Er schwärmte von einer Weinbruderschaft, der es um die Weinwahrheit gehe. Und da etwas Wahrheit hin und wieder nicht schaden soll, ließ ich mich einladen und sehe nun Konrad im Applaus baden und Flaschen entkorken.
Schließlich schnippt er an sein Glas und intoniert in der uns wie eine Fleece-Decke umhüllenden Ruhe: «Wein und Wahrheit». Die anderen spielen Echo und es klingt ein wenig wie in einer Basilika vor dem Vatikanum II. Darauf wird Wein geatmet, Papier beschrieben, schmallippig geschlürft, wieder geschrieben. Jemand erörtert, ihm seien angetrocknete Johannisbeeren, gedrückte Pflaumen und weitere schwer misshandelte Obstvarianten begegnet. Ein anderer wirft «Maulbeere» ein und meint noch ein Quäntchen Kärntner-Minze eingefangen zu haben. Ein jeder findet viel von Diesem und eine Menge von Jenem, bis am Ende Konrad den Wein für hinreichend erschmeckt erklärt.
Aber was immer da geschmeckt wurde, nichts davon findet sich bei mir im Glas.
Verschlossen wie ein Strandkorb im Winter ist der Wein, mit einem grandiosen Finale von Schmirgelpapier.
«Großer Wein ist permanent auf der Reise», will Konrad meine Verwirrung mildern, «daher gehört er perspektivisch begriffen. Perspektivisches Trinken erfasst das Jetzt und erahnt, nein: erkennt die Zukunft; schmeckt quasi den Schmetterling, wo andere nur die Raupe sehen.»
«Unbedingt», stimme ich zu. «Aber wie wär’s mit einem Hauch Realaroma und ungeahnter Frucht; will meinen: Raupe auslassen, gleich etwas Entpupptes ins Glas?»
«Reife ist auch nur ein Moment», grantelt Konrad. «Wir wollen die ganze Wahrheit erfassen, das geht nur in der Perspektive. Außerdem versteht einen reifen Wein jeder Trottel.» Und zackig geht es in die nächste Runde komplett vernagelter Weine mit Perspektiven bis zum westlichen Spiralarm der Galaxis. Als das letztlich ein Ende findet, fühle ich mich wie ein Wattwurm, der sich kilometerweit durch Küstensand gefressen hat und packe meine Siebensachen.
Die Gläser, die ich zuhause auf den Tisch stelle, fülle ich für meine Frau und mich.
Riesling, 12er C.A.I. von Immich-Batterieberg. «Herrlich. Ein innerer Sonnenaufgang, von Lubitsch inszeniert», freut sich meine Frau nach zwei Schlucken. «Sicheres Standbein, flinkes Spielbein – Stoff für einen Ehren-Oscar in der Kategorie ‹Seriöser Spaß›.»
«Pah», rüge ich, «Subjektives Herumreiten auf Zufallsmomenten. Sag mal was Wahres, Perspektivisches über den Wein.»
«Freilich», willigt sie ein. «Perspektivisch gesehen hält das Fläschchen hier keine Stunde.»
«Das ist die Wahrheit», stimme ich lachend zu, und die ist wohl eine Sache der Perspektive.

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, Dezember 2014.
Illustration: Johanna Pietrek