Karikatur - Johanna Pietrek

Ins Rückenmark

Dabei hatte ich extra einen Franzosen als Mitbringsel ausgesucht. Einen roten. Quasi den Bluechip unter den Gastgeschenken – wobei es rundweg egal ist, ob der aus dem Midi, dem Beaujolais oder von der Rhone stammt.
Rote Franzosen nimmt jeder an, zumal mit einem netten Halsschleifchen. Das gehört sich. So, wie dem Toilettenwächter eine Münze dazulassen oder mit frischen Socken in einen Gemeinschaftsumkleideraum zu gehen. Deshalb war das ablehnende „Kannste behalten“ meines Nachbarn Erwin auch ein gelinder Schock. „Bin im Bier-Team“, erklärt er, als er in seine Wohnung vorangeht, „ihr Weinlinge seid mir zu verschwurbelt.“
„Ach“, rebelliere ich, „gibt’s etwa keine Bierbruderschaften, Bierköniginnen oder Biersommeliers?“
„Sommeliers gibt’s für alles außer Kefir“, grunzt Erwin. „Der Punkt ist: Weinlinge haben kein Rückgrat. Ihr kommt rüber wie ’ne Kuh auf ’nem Fischkutter, extrem ungeerdet. Und das noch vor eurem ersten Schluck. Immer in Panik, ihr könntet einen Bock schießen, der gerade gekaufte Wein könnte morgen out sein, oder – der Super-GAU – ihr könnten etwas Falsches über das kostbare Nass in euren erdgekrümmten Zalto-Bechern sagen. Nur gut, dass ihr Weinsprech draufhabt und die bedingten Reflexe funktionieren: auf das Ansaugen eines Rieslings folgt da unwillkürlich ‚Spiel, Mineralik, Struktur‘, wie ein ‚und wenn sie nicht gestorben sind‘ auf das ‚es war einmal‘. 1A Vino-Pawlow. Ihr seid … nicht ihr selbst.“
„Nonsens“, wehre ich ab, doch Erwin grinst nur: „Wie ging doch gleich diese Geschichte?“
Ich zerknautsche einen Mundwinkel.
Die Hermitage-Blamage, klar meint er die: Mein Schwiegervater hatte für Freunde einen Hermitage geöffnet und sofort gebührend abgefeiert. Blöd nur: der korkte. Da alle aber mitjubilierten, schien die Welt im Lot. Auch ich murmelte nur etwas von Potenzial und Eigenständigkeit der Syrah – wer war ich, eine makellos reine psychosoziale Kuscheldecke zu bekleckern. Also gurgelte ich das Muffzeug tapfer weg. Nun, später stellte sich heraus, dass nicht nur die Gäste den Müffler registriert hatten, sondern auch Schwiegerpa. Erstere scheuten die Peinlichkeit für den Gastgeber – der wiederum das Öffnen einer zweiten Flasche von dem teuren Zeug für die offenbar geschmacksvernagelten Banausen.
„Verschwurbelt“, resümierte Erwin, als er die Story zum ersten Mal hörte. Und zu seinem Lieblingswort wurde das, als ich Auserwählten auf einer Fete klammheimlich vom richtig Guten einschenkte, während die anderen sich mit den – immerhin ordentlichen – Flaschen vom Tisch vergnügen durften. „Bei mir heißt es: gleiches Bier für alle“, sagte er damals.
Jetzt aber wirft er mir mit einem „Setz dich schon“ einen Korkenzieher zu. „Für deinen Wein.“
Sich selbst hebelt er ein Pils auf, setzt es an die Lippen und lässt den Adamsapfel tanzen. Dann ein „Aaaah“ und: „Das Zeug geht direkt ins Rückenmark, Mann, herrrlich! Und? Schmeckt dein Wein?“
Ich schnüffele an Bernard Baudrys Chinon, lasse ihn eine sanfte Welle im Mundraum rollen, ziehe ein wenig Luft durch die Lippen und schicke ihn um die Rachenkurve abwärts. „Für reine Prosa zu viel Erzählschwung, für Lyrik zu kühl. Poetischer Realismus“, fasse ich zusammen.
Schweigen.
Dann ein „Eerm“, ein Räuspern und: „ist das jetzt gut oder schlecht? Ich meine: du sitzt da mit schiefem Kopf und Knitterstirn, als ob du ein gottverdammter Profiler aus ner Fernsehserie bist, der dem Serienkiller das Handwerk legen soll …“
„Sogar ziemlich gut“, unterbreche ich und bekomme ein: „Na, dann sag’s doch!“ bevor er aufsteht, „Still crazy“ in den DVD-Player stopft und wir uns in den Film ziehen lassen.
Zuhause gieße ich mir noch einen tags zuvor geöffneten Roxanich 05er Merlot ein, nehme einen großen Schluck.
„Aaaah, herrrlich“, sage ich probehalber – es fühlt sich gar nicht so verkehrt an. „Geht direkt ins Rückenmark, Mann“, nicke ich mir mit gehobenem Glas im Spiegel zu. Solange mich keiner hört …

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, April 2014.
Illustration: Johanna Pietrek