Karikatur - Johanna Pietrek

Gegenkultur.

Es gibt Dinge, die nicht so gemeint sind. Kulturelle Konvention.
Niemand kommt auf die Idee, in Paris über eine Kreuzung zu spazieren, nur weil die Fußgängerampel grün zeigt; oder meint, seine Ikea-Vitrine sähe nach der Eigenmontage so aus wie im Katalog und nicht wie ein Dokumenta-Exponat. Und das dir bei deinem Eintreffen auf der Party entgegengeflötete „Gläschen Schampus?“ ist ebenso ernsthaft als Frage gemeint, wie ein „Grüß Gott“ als Anweisung. Du nimmst entweder ein Glas oder gehst gleich wieder.
Ohne den Blubber in der Hand gerätst du eh zum Phantom, zum Paria, zum Outcast.
Nein, böse gemeint ist das nicht. Ebenso wenig wie die Reihenumarmung beim Hallöchen, auch wenn du da glaubst: feindliche Übernahme. Oder der den Begriff Zimmerlautstärke völlig neu definierende Remix des 80er-Retortensongs, dessen Original schon die Mettigel tollwütig werden und die Königinpasteten reihenweise abdanken ließ.
Kein böser Wille – selbst wenn die Megalong-Dähnzwöhrschn deine Neurotransmitter in den Botenstoffstreik treibt.
Gehört alles zum situativ greifenden Wertekonsens, ist Party-Leitkultur – und die erlaubt keine Maybes unter den hier Zugewanderten. Integration lautet das Gebot dieser blauen Stunde, nicht Multikulti.
Die Akzeptanz eines Gegenentwurfs zum Partyprotokoll ist ähnlich groß wie die des Küsters gegenüber dem Pirelli-Kalender in der Sakristei. Wer auf Begrüßungsschluck-Pluralismus besteht, vielleicht gern ein Wässerchen hätte, verbringt den Rest des Abends am Katzentisch. Im Partyghetto.
Da kannst du dann vom Kassenwart der Kleingärtnervereinigung Nordbümmelrode Kompostiertipps sammeln.
Dann doch lieber das „Gläschen Schampus“, würdest du meinen.
Nun ist dieser „Schampus“ weitestgehend definitionselastisch. Abgesehen natürlich von den Sprudelperlen. Da können der cordbejackte, beharrlich von seinem ersten 2CV erzählende IGS-Lehrer und der zwangsneurotisch jugendliche Finanzoptimierer mit dem Fingernagelschnitt der Saison noch so wenig gemein haben – einig sind sie darin, dass das Drumherum um den Blubber just wumpe ist. So darf gerne preissensibel ausgewählt werden. Und da seit Ersetzen des spießigen Frühstücks durch Carbrunching auf dem Weg zur Arbeit Sodbrennen zum festen Bestandteil des Befindens gehört, fällt ein Glas Partysprudel für die Magenschleimhäute ins Gewicht wie ein Duftbäumchen in der Pommesbude.
Ergeben steuere ich also meinen Arm zum Tablett, greife mir eine Flöte. Und prompt meldet die interne Eigensicherung maximale Bedrohungsstufe. Denn, ja – das Zeug ist rot.
Vorsichtig ziehe ich das Glas unter den Nüschel.
Nicht die Spur der erwarteten Plüschsüße. Dafür der klare Duft eines Schubers roter und dunkler Beeren. Auch im Mund fehlt der von so vielen Perlroten offerierte Fliegenfallenkleber – eine saubere Beereninvasion surft gekonnt auf den kleinen Bläschen. Mit Steinfruchtflanke, dezenter Kräuterdeckung, viel nuancierter Beweglichkeit und Humor in der Trockenmasse. Da wird trotz aller Energie Wert auf differenziertes Auftreten gelegt, auf Selbstreflektion. Der verschwindet auch nicht genierlich durch die Hintertür sondern hinterlässt eine lang lesbare Visitenkarte.
Ich muss wissen was das ist.
Bardong, sagt das Etikett. 97er Rüdesheimer Klosterberg Spätburgunder.
Flaschengärung.
Brut.
Und nicht, dass du sagst: 97, da hat doch jemand die Abstellkammer entrümpelt. Frisch degorgiert war der. Unter drei Jahren Lager kommt bei Bardong sowieso nichts von der Hefe und das Quäntchen mehr an Reife ist eine Spezialität dieser sich seit 1984 mit sympathischer Zurückhaltung vermarktenden Manufaktur.
Mein fordernd hingestrecktes Glas wird nachgeschenkt und befüllt meinen Mund erneut: beiläufigkeitsfreier Stoff. Da ist nichts Vages.
Manche Dinge sind offenbar doch so gemeint.
Gegenkultur quasi.
Übermütig machen darf dich das freilich nicht. Auf ein „Wie geht’s?“ gehört immer noch maximal ein im Vorüberhuschen gemurmeltes „Und selbst?“

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, April 2013.
Illustration: Johanna Pietrek