Zur Einstimmung:
„Was wir brauchen ist Kompetenz statt Punkte.“
Martin Kössler
www.weinhalle.de

Karikatur - Johanna Pietrek

Punktum

Blicke können nicht töten, dir die Meinung sagen aber schon. Und das bisweilen mit der gleichen Energie wie die Fankurve dem Spieler, der gerade den Elfmeter vergeigt hat.
Der mir zugedachte Blick von Nachbar Erwin damals war einer von der „Du-Spinner“-Sorte.
Nicht die mitleidige Variante. Eher die misstrauische, die man gerne für Typen mit verzerrten Gesichtern und Spaltäxten unter’m Arm reserviert, Marke Nicholson in Shining. Und vielleicht hätte ich Erwins Botschaft vor ein paar Jahren mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Möglicherweise wäre dann alles anders gekommen.
Erwin kauerte auf einem Sitzsack und ließ sich von Sitar-Geschwiemel bedudeln. Für alle Welt ein Synonym für Entspannung, bei mir ein Garant für Bluthochdruck-Spitzenwerte.
Tee hatte er mir angeboten. Darjeeling, grün. Und gefragt, ob ich lieber einen aus dem Makaibari-Garten oder der Nagri-Farm hätte.
Beide wollte ich. Blind, gegeneinander.
Sofort begann ich nach dem Block für Notizen und Punkte in meiner Jacke zu kramen, als mich genau dieser Blick stoppte. „Du kriegst Makaibari“, verordnete Erwin und verschwand – „unbalancierter Typ“ grummelnd – in die Küche.
Wer nicht (re)zensiert ist bloß flüssigkeitssaugende Biomasse, dachte ich mit einem Blick auf den Notizblock. Gut, es ist Tee. Aber auch der will als Information verstanden werden, nicht bloß als weißes Rauschen in der Kehle. Nein, ich wusste: die Blindprobe ist der antimanipulative Schutzwall und Dokumentation ist die Beichte der Vernunft.
Punkte? Dringend notwendige Haltegriffe im schlingernden Omnibus der Beliebigkeit!
Kurze Zeit danach entdeckte ich Facebook und spürte: ich war nicht alleine. Und praktisch war das Netzwerk auch: keine Leitzordnerstrecken für Probiernotizen mehr, keine Nörgeleien meiner Frau, nur weil ich für Neuzugänge wieder ein paar Reihen ihrer Bücher in Pappkartons umquartieren musste.
Nun musste ich auch nicht mehr auf Besuch warten, dem ich meine Best-of-Notizen während ein paar netter Stunden zeigen konnte. Gleich mein Thunfisch-in-Öl-Dosen-Tasting hatte 47 Likes; strenges 20-Punkte-System, bedarfsmodifiziertes Davis-Aroma-Rad.
Für meine Salinensalz-Vertikale aber waren viele noch nicht reif. Doch ich wusste, meine Arbeit war wichtig.
Bücher besorgte ich mir fortan nur noch im Hörformat und ließ den Vorspann mit dem Buchtitel und Autorennamen löschen. Purer Text für lupenreine Punktwertung.
Etwa zu diesem Zeitpunkt war meine Frau bereits ausgezogen (meine 12,5 Punkte für ihren letzten Gutenachtkuss müssen ihr wohl überkritisch vorgekommen sein) und der Postbote warf die Briefe nur noch im Vorüberlaufen auf den Rasen, so dass ich ihm die kümmerlichen 4 Punkte für seine Leistung hinterherbrüllen musste.
Nachbar Erwin ließ die Rollos runter, wenn er mich sah (12 Punkte für seine Frisur) und die Freunde waren plötzlich alle verhindert.
Als es dann trotzdem bei mir klingelte, war ich skeptisch.
Ich bahnte mir den Weg durch das überall verteilte Material für anstehende Probenflights – darunter „Vollmilch aus sieben Bundesländern“, „Heilerde organoleptisch betrachtet“ und „geminzte Zahnseiden aus Übersee“.
Es waren zwei Männer, die mir in eine makellos weiße Jacke (17,5 Punkte) halfen, deren Ärmel nach hinten gebunden wurden (dafür gleich 6 Punkte Abzug) und mir sagten, ich würde einen schönen Erholungsurlaub bekommen.
Vier Jahre ist das her.
Ich habe inzwischen gelernt loszulassen, die Dinge heiter zu nehmen.
Punkte? Ach was! Punkte gehören auf Kleider in Doris-Day-Filmen, nicht ins wirkliche Leben – das ist mir jetzt klar. Ich wohne wieder zuhause, die Nachbarn nicken mir wieder zu und sogar meine Frau überlegt, ob sie das gerichtliche Annäherungsverbot aufheben lässt.
Ich schenke mir ein Glas 12er Erstlagenwein von Paul Weltner ein, seinen Sylvaner vom Iphöfer Julius-Echter-Berg. Was der Winzer da alles an Energie in diese Bäuchleinbuddel gefüllt hat – was soll ich sagen – wenn das keine 17 Sternchen wert ist …

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, November 2013.
Illustration: Johanna Pietrek