Karikatur - Johanna Pietrek

Zum Wohl

Er hatte sich gerade mit „Ich bin Rudi und ich bin Veganer“ eingeführt. Was im Verein mit seinem T-Shirt schon ein bissele Overkill-Kapazität hatte – das parolierte nämlich komplementärfarbig in grün-rot: „Go vegan or go to hell“.
„Andreas“, stelle ich mich meinerseits vor, bevor ich grinsend hinzusetze: „und ich mag kein Pflaumenmus.“
Ja, das hat dem Rudi nicht gefallen und wer will ihm das verübeln – Respekt und alles. Aber ich kann nicht anders. Missionars-Allergie.
Klar will auch ich kein Puten-Gulasch aus dem Geflügel-Gulag und bevor ich Fleisch aus dem veterinär-industriellen Komplex auf meinen Teller lasse, mampfe ich lieber Kleiemüsli. Also kannst du eigentlich sagen, der Rudi und ich: praktisch Seelenverwandte. Aber gegen Allergene kommst du nicht an und sein Zelotengruß samt Shirt lösten eine spontane Immunantwort aus. Missionars-Allergie halt, doch kein guter Start in den Abend.
Da trifft es sich gut, dass der Gastgeber zum Korkenzieher und einem Gourt de Mautens 2008 greift.
Wein wirkt positiv aufs Immunsystem. Zumindest auf meins. Und dieser Rasteau mit wortwörtlich märchenhafter Vollausstattung erweist sich schon nach dem ersten Schluck als nachhaltiger Krieger gegen Sozialallergene.
Aber der Rudi hat mich auf dem Schirm. „Du trinkst Alkohol“, stellt er fest und klingt dabei wie ein Fan der Verlierermannschaft, der feststellt, dass noch drei Minuten zu spielen sind. Klar muss ich da präzisieren: „Das ist Gourt de Mautens, mein Freund, kein Alkohol.“ Eine Gibson ist ja auch nicht einfach eine Gitarre, ein Citroen DS nicht einfach ein Auto. Du weißt das, ich weiß das, aber der Rudi ist da irgendwie anders. Dem gefällt das nämlich wieder nicht, er sagt „typisch“ und „Alkoholismus“ und „Verleugnungsstrategie“. Dabei spricht er gar nicht mehr wirklich zu mir, denn urplötzlich hat er ein aufmerksames Publikum. Was dem Rudi gefällt, obwohl der nur noch ernster schaut.
Alkohol, doziert er, bedroht Würde und Freiheit, macht aus Charakteren Chaoten, verödet Hirne, vermodert Moral, kostet die Krankenkassen Milliarden. Ja, letztlich sind es der Rudi und die Restallgemeinheit, die für meinen Konsum zahlen müssen.
„Ah! Wenn du das mal tätest“, will ich scherzen, doch Rudi scherzt nicht mit. Alkohol zerstöre; Existenz, Familie, Volkswirtschaft.
„Das macht zu viel Wasser auch“, rebelliere ich, „alles eine Frage der Dosierung!“ Doch da schaut der Rudi wieder traurig wie ein Basset und fragt, ob ich einen Vorrat an Alkohol hätte. Stolz will ich ihm von meinem kleinen Weinkeller erzählen, doch Rudi will das gar nicht wissen. Plane ich am Morgen meinen Abendkonsum, denke ich oft an Alkohol, habe ich ein Trinksystem, macht mir Trinken Spaß? Rudi ermittelt vor gebannter Runde in alle Richtungen und geizt schließlich nicht mit seinem Urteil: „Du bist Alkoholiker.“
Überrumpelt nehme ich einen Schluck Rhone, was den Rudi zum Nicken, die anderen zum Tuscheln bringt.
Verstohlen lässt der Gastgeber den Wein verschwinden. Am Tisch wird es wieder lebhaft. Jemand weiß von einem Nachbarn mit Dauerfahne zu erzählen, der nie arbeitet, ein anderer von Vandalismus und zerbrochenen Flaschen im Park. Überall ist von einem Moment auf den anderen Tomatensaft in den Gläsern.
Als Rudi bekennt, sein Körper sei ein Tempel und die Tischgemeinde dabei ganz andächtig wird, murmele ich etwas wie „muss früh raus“.
Beim Aufmachen der Tür höre ich noch, dass das ganz typisch sei; Fluchtreflex, Affektlabilität, kognitive Dissonanz, Amok reine Zeitfrage.
„Teufelszeug“, stöhnt jemand, „dass niemand was dagegen tut“.
Auf dem Nachhauseweg verfängt sich mein Blick an einer Plakatwand; Himmel, weiter Horizont, ein Schriftzug: „Alkohol schafft Illusionen – die beste Droge ist ein klarer Kopf“. Komplementärfarbig.
Im Weitergehen zücke ich mein Handy und tippe rasch – Kontostand hin oder her – eine große Bestellung meiner Lieblingsweine ein.
So lange es noch legal ist.

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, Mai 2014.
Illustration: Johanna Pietrek