Illu AB Pietrek

Der Junge, der darauf beharrt, diesmal müsse aber die Schwester mit der Mutter in die Oper gehen.
Der in die Radarfalle gerauschte Autofahrer, der sich freut, dass der Wagen hinter ihm ebenfalls geblitzt wurde.
Gleiches Unrecht für alle, geteiltes Leid bitte schön. Das tilgt nicht die Pein, erweitert aber den Pool der Leidenden, und man ist nicht mehr allein.
Irgendwie: Prinzip Selbsthilfegruppe – und das funktioniert ja schließlich.
Aber nicht immer.

 

Ausgleich

«‹Die junge, strahlend schöne Winzerin, die in groben Arbeitsschuhen eine ebenso gute Figur macht wie in eleganten Pumps, hat sich auf ihrem Gut ganz dem Rotwein verschrieben. Hier trägt jede Flasche die Signatur ihrer einfühlsamen Hände. Die sympathische und kluge Frau lässt intuitiv feminine Kreszenzen mit Filigranschliff und…›»
«Muckefuck! Was liest du da?» Das kommt energischer heraus als gewollt; aber die Angst vor einem weiteren Kitsch-Tsunami hetzte ein Quantum kampfbereiter Katecholamine in meine Blutbahn, und das kann schon mal stimmbildnerisch wirken.
«Meine Lieblings-Weinbroschüre», informiert Erwin, «heute in der Post. Da gibt’s ein neues Weingut, das von einer…»
«Wusste gar nicht, dass Hedwig Courths-Mahler zu den Untoten gehört und als Weinhändlerin karrieriert.»
«Hedwig wer? Nö, die Aussendung ist von dem, hier, du weisst. Aber, sag mal, ‹karrierieren›: ist nicht dein Ernst, oder?»
«Vor allem: mein Protest. Lieber illegitime, aber unverbrauchte Bastard-Vokabeln nutzen als diskreditierte Lexeme vom Plattitüden-Grabbeltisch.»
«Also, ich find’s gut, wenn ich weiß, wer den Wein macht.»
«Klar. Aber bitte ohne Frauchenschema-Müll. Beim Weinmachen ist der Body-Mass-Index doch wohl zweitrangig – oder das mit seiner asymmetrierenden Wirkung die Faszination der Erscheinung noch steigernde Muttermal.»
«‹Asymmetrierend›», Erwin verzieht einen Mundwinkel, «dafür gibt’s die Gelbe Karte.»
«Der Winzerinnentext ist Binse», lasse ich mich nicht beirren, «Einschüchterungskitsch. Weil Frauen intuitiv und hübsch, aber nicht innovativ und kompetent sein dürfen. Den Männern die Prinzipien, den Frauen Empfindungen – uralte Geschichte, ergo schreiben so was nur Zurückgebliebene.»
«Komm wieder runter, Mann. Minnesang, schon mal gehört? Soziales Ritual, ethisch einwandfrei. Und jetzt eben modernisiert und fast Volkskunst.»
«Krippenfigurenschnitzen ist Volkskunst. Oder das optische und akustische Aufmotzen von Autos. Der Text ist ein Plattprodukt eines Typen, der Frauen für so eitel wie unveränderlich accessoiretiv hält. Stanislaw Lec würde das ‹mit einem Denkmal steinigen› nennen.»
«Und du steinigst den Duden, Mann: ‹accessoiretiv›. Der Autor ist einfach ehrlich; gibt zu, dass er schöne Frauen mag. Die außerdem noch guten Wein machen.»
«Meinetwegen könnte er das ja gerne machen. Wenn über die Winzer, also Männer, exakt so gesprochen werden würde. Als Korrektiv, weißt du? Dann, ja dann wäre die Broschüre für mich auch konsentabel. Ausgleichende Gerechtigkeit.»
«Dann wäre die Broschüre, äh, ‹konsentabel›?»
«Sage ich doch.»
Erwin greift nach zwei Flaschen 13er Le Petit von Jost und Ziereisen, dem Blanc und dem Rouge. Basel, Riehener Schlipf.
Ein Sauvignon, ein Pinot Noir.
«Erst mal durchatmen, bevor dein Protestsprech auswuchert.»
Ich atme. Feuerstein, sagt der Sauvignon. Und Kräuter, Stachelbeere, Zitronenschale. Komplex, viel Rückgrat. Radikal kitschfrei besteht er auf Aufmerksamkeit. Richtig so.
Der Pinot, ebenfalls mineralisch, doziert enthusiastisch über das Thema Kirschen in Geschichte und Gegenwart. Mittelgewichtig, strukturiert. Kräuter, Mandelstäubchen und ein Rosenblatt als Garnitur.
«Was meinste?», frage ich, und Erwin räuspert sich: «Sein forschender Blick unter den sanft geschwungenen Augenbrauen und die dezent spitz zulaufenden Koteletten gemahnen an den jungen Errol Flynn. Der leicht gewölbte Bizeps der im milden Sonnenlicht schimmernden Arme zeugt von der aufopferungsvollen Arbeit mit den kleinbeerigen Pinot-Trauben, aus denen der leidenschaftliche Winzer Thomas Jost anspruchsvolle Tropfen voller Finesse gewinnt… So, Mann, ist das genug ausgleichende Gerechtigkeit? Darf ich jetzt meine Broschüre ungestört weiterlesen, ja?»
Ich zerknülle das Ding, werfe es in Richtung Papierkorb.
«Mann, was ist aus ‹konsentabel› geworden?», protestiert Erwin.
«Ein Irrsal, Erwin. Ein Irrsal.»

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, Januar / Februar 2017.
Illustration: Johanna Pietrek