Illu AB Pietrek

Früher, als man ebenfalls sagte, dass früher alles besser war, war alles besser.
Also, natürlich nicht so gut wie in der Zeit davor, nicht so gut wie in dem noch früheren Früher.
Weil aber genau das in jenem früheren Früher gängige Meinung über die Vorzeit, die damalige Prähistorie, war, versteht sich, dass wir irgendwann, am Ende
dieser Reihung, am Anfang aller Zeit, auf das lupenreine Paradies stoßen müssen.
Aber bis dahin ist es ein gutes Stückchen Weg…

 

Paradies

Ich lasse das Garagentor zufallen, schlurfe über den Hof. Das Fenster zu Erwins Küche steht offen, und die Musik ergreift gierig die Chance, raus an die frische Luft zu kommen. Ist auch nötig, denn dieser Uriah-Heep-Song war Jahrzehnte in einer Mottenkiste eingebuchtet.
Ich schaue durchs Fenster, und Erwin winkt mich rein.
«Return to fantasy?», begrüsse ich ihn, deute auf den CD-Player.
«Wäre echt an der Zeit», brummelt Erwin und holt zwei Gläser. «Zu müde fürn Wein?»
«Nur gestresst. Feierabendverkehr», räume ich ein und höre, wie Blackmores Gitarre die Heepster aus den Membranen schleudert. Rainbow, und Dio singt «nothing is real but the way that I feel».
Die Siebziger finden wieder mal Asyl bei Erwin.
«Auch der war früher besser, der Feierabendverkehr», sinniert er prompt. Und weil ich darauf nicht einsteige, legt er nach: «Alles war besser. Sogar das Schlechtdraufsein. Wenn du früher den Blues haben wolltest, musstest du nachts an eine abgelegene Wegkreuzung trecken. Stelldichein mit Mister Bluesdealer. Dem Teufel persönlich. Mondlicht, Nachtvogelschrei, ferner Donner. Grosses Kino. Seele gegen Blues. Wow! Heute reicht ’ne poplige Kreuzung in der Stadt zur Rushhour, um den Blues zu kriegen. Musst nur in deinem Wagen mittendrauf stehen, eingeklemmt in einen plötzlich katatonischen Konvoi, wenn die kreuzende Strecke Grün kriegt und die Fahrer dich zwischen sich und ihrem Feierabend sehen… voilà: the blues is gonna get ya.»
«Aber so was von!»,lache ich, dieweil John Evans’ Piano etwas «Locomotive Breath» ablässt.
«Nee, ernsthaft», beharrt Erwin, «gibt’s heute irgendwas, das in den Siebzigern nicht besser war?»
«Kernlose Weintrauben, Laptops, Tapetenmuster…»
«Bockmist. Ich meine die Essenz, kulturelle Parameter! Musik. Wein.»
«Echt jetzt?»
«Klaro. Bordeaux war damals durchweg unangepasst, hatte seine zwölf Komma fünf, basta! Und heute? Barolo war…»
«Kommt jetzt die Elegie aufs verlorene Weinparadies?»
«Warum nicht?»
«Vielleicht wegen so einiger Loire-Rosés damals, bei denen ‹Restzucker› jede andere Untertreibung um Längen schlägt? Pieseliger Beaujolais? Retsina, bei dem…»
Erwin unterbricht unwillig: «Fair bleiben! Retsina – gibt’s doch gar nicht mehr.»
Also flitze ich kurz rüber zu mir, und bald rinnt Retsina zu Little Feats «Fool yourself» in die schon ungeduldigen Gläser.
Ritinitis Nobile, Gaia Wines. «Frische Gurke, Eukalyptus, Nadelwald, Rosmarin», wittert Erwin. «Swingt zwischen Pinienharz, Frucht und Säure. Eine Nashi am Rand, ulkige Physalis, ordentlich Mineral. Unmöglich Retsina», konstatiert er, «zu differenziert. Wo ist das Fiese?»
«Ha! Heimsieg für das Hier und Jetzt gegen das Präteritum. »
«Aber nicht sehr lang, das Stöffchen», bäumt Erwin sich auf.
«Bleibt aber lang im Gedächtnis», kontere ich.
Niederlagen sind nicht Erwins Ding, also taucht er ab, lauscht David Gilmour, der zwei im Goldfischglas schwimmende verlorene Seelen besingt.
«Hörst du das?», meldet er sich wieder an Deck. «Das war noch Musik: Dixie Dregs, Camel, Zappa, Steely Dan. Nicht son Medienhype-Popelkram wie heute.»
«Schon klar. Aber waren da nicht auch die Village People, Sweet, Bee Gees, Bay City Rollers. Gib auf, Erwin, und ich gebe noch einen aus.»
«Du zuerst.»
Also schenke ich ein.
«Ein Schäumer», freut sich Erwin, resümiert: «Forsche Zitrusdinger, Backapfel mit ’nem Stäubchen Nuss, Kräuter, vielleicht leicht getoastetes Brot. Bissele Dosage, steht ihm. Echt gut ausgesucht, mein Freund.»
Ich halte ihm das Etikett unter die Nase: Balfour 1503 Classic, Hush Heath Estate.
«Englischer Sekt in Blickweite von manch gutem Schampus. Gab’s das in deinem Siebziger-Paradies?»
«Vergiss die Siebziger», winkt Erwin ab. «Der echt kreative Kick war eh in den Zwanzigern. Chaplin, Marx Brothers, Mae West, Fields. Dagegen kommt dieses Jahrtausend nie an, wetten? Warte, ich habe doch ein paar Aufnahmen von den Mills Brothers und von…»

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, November 2016.
Illustration: Johanna Pietrek