Illu AB Pietrek

«Zuviel ist bitter, und wenn es lauter Honig wäre». Naja, Sprichworte. Aber dieses stimmt – vor allem in Bezug auf Honig.
Oder Schoko-Croissants.
Andererseits zeigen Studien, dass allein die Angst vor Korpulenz, also lediglich die Sorge, man sprenge das angesagte Verhältnis von Körpermasse und -grösse, die Lebensqualität vieler Menschen drastischer beeinträchtigt als ein tatsächliches Übergewicht. Leben: ein Drahtseilakt.
Zumal nicht alle Kalorien gleich sind.

 

Bauchgefühl

«Heute nicht», sagt er, und das ist nicht gut. Denn wenn Erwin einen Wein ablehnt, hat sich seine Laune eingebunkert und hält Serotonine und Endorphine – die körpereigenen Glücksritter gegen Schwermut und Reizbarkeit – sämtlich in Geiselhaft. Glaub mir: du hast lieber einen Alligator mit Zahnweh und Midlifecrisis in der Wohnung, als einen übellaunigen Erwin. «Wasser ohne alles», verlangt er, und ich ahne etwas.
Denn da war diese Gesine.
Neulich auf der Feier.
Kaum war sie zur Tür rein, fing Erwin auch schon an, Rehaugen zu machen – kein schöner Anblick. Aber Gesine hat das kaum irritiert. Missfallen hat ihr, wie sich ergab, eher Erwins Bäuchlein. Doch bevor ich weitererzähle musst du wissen: was dem Napoleon seine Schulterhöhe, ist dem Erwin sein Bauch. Brisantes Thema, da ist er hochverletzlich – quasi Achillesflomen. Also: als der Erwin sich an dem Abend gerade sein fünftes Glas von Clavels Copa Santa gönnt und sich Lammburger nachlegt, spricht Gesine ihn plötzlich an. Ein kleiner Schock, denn die drei Stunden davor reagierte sie zero auf Erwins Kontaktangebote, himmelte nur unverwandt ihr Wasserglas an als habe sie das Schicksal nach schwerer Zeit der Trennung just wieder vereint. Umso mehr freut sich der Erwin also. Und wie er gerade seine besten Imponiersätze hervorkramt, geht ihm auf, dass Gesine über so etwas wie Kalorienharakiri und Körperhavarie spricht und dass das beim besten Willen nicht als Eröffnungen eines Balzdialogs durchgeht. Zudem hat sich Gesines Blick in Erwins Körpermitte mit dem subkutanen Tranfeld gekrallt, während sie seinen Wortschatz ungebeten um Vokabeln wie «Viszeralfett» und «Adipositas» erweitert. Und als sie resümiert, dass ein Schwabbelkörper die blankgezogene Visitenkarte einer marodierenden Psyche ist, insbesondere wenn die Kalorienzufuhr auf Alkohol basiert, ist bei Erwin endgültig Schluss mit Rehaugen.
Ausgezählt, am Boden.
Da hilft auch nicht, dass der Daniel mit Hemdgröße 46 und gelockertem Hosenbund die ganze Zeit eine Riesengaudi hat, während Gesine den Rest des Abends den Schraubstockgriff um ihr Mineralwasser und den Riverdance in ihren Kaumuskeln perfektioniert.
Erwin hat die Plus-Size-Depression.
Geht nun seit Tagen so: er lümmelt rum, pult grimmig Knäckebrotkrümel vom Sweatshirt, massiert sein Wasserglas.
«So wird das nichts mit deiner Festanstellung als Botschafter des Frohsinns», stelle ich klar. Er schnippt einen Krümel nach mir. Also lasse ich Musik sprechen:
«There’s a fat man in the bathtub with the blues».
Erwin liebt Little Feat.
Vielleicht entwischt deshalb ein Serotoninchen aus der Bunkerhaft, jedenfalls hört Erwin mit Pulen auf und lässt einen Zeigefinger sachte den Backbeat klopfen.
Ich schiebe ihm l’Horizon rouge rüber.
Die beiden sehen sich eine Weile an, dann lässt Erwin ihn ins Glas. Zweifingerbreit. Lichtfunken im Jugendrot.
«Frisch».
«Dreizehn», stimme ich zu. Erwin schnüffelt. «Olfaktorisches Paralleluniversum», schlage ich vor. «Abenteuerspielplatz», findet er, und mehr Seros und Endos befreien sich, fangen flugs ein paar Schlehen, Beeren, Sauerkirschen, atmen Orangenschalenstaub, Steine, Kräuterwürze.
Erwin schaukelt l’Horizon im Mund und seine aus dem Untergeschoss hochschlurfende Laune staunt, wie hier Kraft und Gewandtheit zusammenpassen.
Aromen steigen durch weiches, dichtes Tannin. «Cooler Hitzkopf», wird Erwin kryptisch, doch sein «Mach’s Glas voll» ist eindeutiger.
Er wechselt die CD: «Jeremiah was a bullfrog, was a good friend of mine», tönt es und wir helfen den Boxen stimmkräftig: «I never understood a single word he said but I helped him drink his wine, and he always had some mighty fine wine.» Was den Ex-Gefangenenchor der Serotonine auf den Plan ruft: «Joy to the world…».
Was soll ich sagen, Kalorien können eben weit mehr als nur Bauchspeck. Im Allgemeinen.
Und im Besonderen, wenn sie auf Alkohol basieren.

Andreas Bürgel
Erstveröffentlichung: VINUM, Juni 2016.
Illustration: Johanna Pietrek